Ansprache in der Christvesper (18.00 Uhr)

  • 24.12.2019 , Heiliger Abend
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Was wir gerade gesungen haben („Ich steh an Deiner Krippen hier“), liebe Gemeinde, ist eines meiner Lieblingslieder zu dieser Zeit des Jahres. Viele Weihnachtslieder sind mir irgendwie zu süß, zu nett, zu harmlos. Sie klingen nach Weihnachtsmarkt, Fahrstuhlmusik oder Schlagerparade. Ein paar Wochen im Jahr ist das okay, aber dann dürfen die süßen Glocken, der leise rieselnde Schnee und die O Tannenbäume von mir aus auch gerne wieder auf dem Speicher verschwinden.

Mit „Ich steh’ an deiner Krippen hier“ ist das anders. Den Text komponierte der berühmte Liederdichter Paul Gerhardt im Jahr 1653, in der noch von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges schwer geschlagenen Mark Brandenburg. Was seine Lieder besonders macht, ist eine gleichermaßen kompromisslose wie tief empfundene Frömmigkeit. Da gibt es kein langes Drumherum, Gerhardt stell uns an die Orte, an denen Glauben geschieht – oder eben auch nicht geschieht. Orte, wie das Kreuz, das leere Grab und die Krippe. Ich stehe an der Krippe. Das ist Weihnachten, mit einem Satz gesagt. Ich steh’ an Deiner Krippen hier – egal, wo das ist. Winterromantik braucht’s dazu nicht. Die meisten Christen auf dem Planeten feiern das Christfest heute bei Temperaturen über 20 Grad. Es braucht auch keine Weihnachtsbäume. Die tauchen erst im 17. Jh. auf Märkten und öffentlichen Plätzen auf, und erst vor gut 200 Jahren fanden sie ihren Weg in die Wohnstuben gut-bürgerlicher Haushalte. Nein, Weihnachten ist viel einfacher und schnörkelloser: Menschen stehen an der Krippe.

Aber was hat sie hierher gebracht?

Die Weisen aus dem Morgenland, weil sie etwas gesucht haben – den Heiland der Welt. Die Hirten auf dem Feld, weil sie etwas und gesehen haben – Lichter und Stimmen.

Und wir, heute? Was bringt uns hierher? Vielleicht nur, dass wir es jedes Jahr tun? Weil eben Weihnachten ist und sich ein wenigstens kurzer, scheuer Blick in die Krippe ja gar nicht vermeiden lässt.

Bei mir zuhause wird zwischen den Jahren mit fast religiöser Andacht „Dinner for One“ im Fernsehen angeschaut. Die meisten von ihnen kennen ja diese obskure Geburtstagsparty, die eine schrullige britische Lady jedes Jahr mit ihren längst verblichenen Verehrern feiert. Da stellt der zunehmend verzweifelte Buttler die legendäre Frage „The same procedure as last year, Miss Sophie?“ Und die alte Dame antwortet ebenso legendär: „The same procedure as every year, James.“

Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr – ist es vor allem das, was uns zur Krippe bringt und uns dann auch bald wieder von ihr aufbrechen lässt? Oder ist da noch etwas mehr? Ist Weihnachten nicht auch die Zeit im Jahr, wo wir es uns erlauben, etwas zu erhoffen und zu erwarten, das sonst im Leben keinen Platz hat? Die Zeit im Jahr, wo das Herz und nicht so sehr das Hirn darüber entscheidet, was wir für wahr halten dürfen?

Aber vielleicht geht es nicht nur darum, was uns zur Krippe gebracht hat – ob Zufall, Gewohnheit oder eine innere Sehnsucht. Die Frage ist, ob wir stehen bleiben und tiefer hineinsehen in die Krippe – oder ob wir weitergehen. Paul Gerhardt sagt das so:

Ich sehe Dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen,

und weil ich nun nicht weiter kann, bleib’ ich anbetend stehen.

Warum gerade hier stehenbleiben und hinsehen? Eigentlich bleiben moderne Menschen selten stehen. Im Gegenteil, moderne Menschen gehen weiter, moderne Menschen meinen, dass Stillstand Rückschritt ist und dass man sich nicht von allem aufhalten lassen kann, was Aufmerksamkeit will. Moderne Menschen haben gelernt, auszublenden, wegzusehen, weil man sonst nirgends mehr ankommen würde. Andauernd sagt irgendwer, was empfehlenswert und gut für uns wäre, was wir brauchen, welche Gelegenheiten wir ja nicht verpassen sollten. Sie kennen das ja: da will man online etwas bestellen oder eine Reise buchen, und dann wird einem auch gleich gesagt, dass es nur noch ganz wenige Angebote dieser Preisklasse gibt und sich jetzt in diesem Moment noch fünf andere Menschen auch dafür interessieren. Wer bei alle dem, was uns anspricht und anspringt, nicht gelernt hat, wegzusehen und weiterzugehen, hat eigentlich schon verloren.

Was also braucht’s, damit wir stehenbleiben? Was bindet unsere Aufmerksamkeit für mehr als nur einen Moment? Ich erlebe es an mir selbst, wie unruhig und ungeduldig ich manchmal bin. Es fällt mir wesentlich schwerer also noch vor einigen Jahren, mich ganz einer Sache zu widmen oder jemandem meine wirklich ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Da schaut man nebenher doch noch mal kurz ins Internet, setzt einen Tweet oder ne’ WhatsApp ab und merkt gar nicht, wie einem, das, was jetzt gerade wirklich wichtig sein könnte, entgleitet.

Wir leben in schnellen und schnelllebigen Zeiten. Wir machen vieles auf einmal, und das hält uns auch auf Trapp, gibt uns das Gefühl von Dynamik und Lebendigkeit – auch wenn das bedeutet, mehr an der Oberfläche zu surfen als in die Tiefe hinein zu leben. Was länger braucht oder kompliziert ist, wird erst einmal zurückgestellt. Was nicht auf den ersten Blick einleuchtet, bekommt selten eine zweite Chance.

Warum also ausgerechnet an der Krippe stehenbleiben? Warum gerade hier länger und geduldiger und genauer hinsehen?

Paul Gerhardt gibt darauf eine recht kühne Antwort: Wenn wir in die Krippe hineinschauen, dann wäre das eine ziemlich triviale Sache, wenn es dabei nur um ein Baby und Stallromantik ginge. Wer sich für Windeln, Stroh und Heu interessiert, könnte auch auf einr Geburtsstation oder einem Bauernhof glücklich werden. Nein, hier geht es um etwas ganz anderes. Was wir in diesem Kind sehen, wenn wir nur lange und tief genug hinschauen, das sind wir selbst: wir als die Mensch, die Gott aus uns machen will, die Menschen, die noch geboren werden, egal wie jung oder alt, wie fit oder verbraucht, wie angesagt oder abgeschrieben wir im „wirklichen“ Leben sein mögen. Wir, die Menschen aus Glaube, Hoffnung und Liebe. Wenn ich das Kind in der Krippe anschaue, erlaube ich es mir, für wahr zu halten, dass ich das bin und dass Gott zu mir gekommen ist und in meine Wiege hineinschaut. Paul Gerhardt kann das in Bildern ausdrücken, die im wörtlichen Sinne unter die Haut gehen und in Mark und Bein fahren:

Du hast mit deiner lieb erfüllt, mein adern und geblüte, dein schöner glantz dein süsses Bild liegt mir ganz im gemüthe. Und wie mag es auch anders seyn, wie könnt ich dich mein hertzelein, aus meinem hertzen lassen.

Zugegeben, das ist alte Sprache, fromme Sprache, für manche vielleicht einen Tick zu fromm und zu lieblich; aber sie bringt es doch auf den Punkt. Weihnachten ist das Geburtsfest Jesu, gewiss; aber wie man so schön sagt: Das ist schon so lange her, dass es schon fast nicht mehr wahr ist. Nein, was es für uns heute und hier wahr macht, ist, dass es an der Krippe Jesu auch für uns Geburtstag wird: unser Geburtstag als die Menschen, die Gott aus uns machen will. Paul Gerhardt sagt das so:

Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren, und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kant erkohren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.

In der frühen Kirche wurden Menschen oft in der Weihnachtszeit getauft. Das waren damals vor allem Erwachsene; Menschen also, die mitten im Leben stehen, die schon das ein oder andere erlebt und erlitten haben; Menschen mit Narben an Leib und Seele. Menschen, die wissen, dass das Leben kein Krippenspiel ist – und dennoch wollen, dass es Weihnachten wird. Wir feiern dieses Fest heute vor allem für unsere Kinder, und es ist auch gut, wenn schon die Kleinen anfangen, ihren Weg zur Krippe zu finden: „Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all, zur Krippe her kommet in Betlehems Stall“. Aber eigentlich ist Weihnachten ein sehr erwachsenes Fest: „Ich steh an deiner Krippen hier“. Ich, der erwachsene Mensch, der auch ganz woanders sein könnte, der schon vieles probiert hat, der gefallen und wieder aufgestanden ist. Ich stehe hier und will es nicht anders. Paul Gerhardt scheint es sehr bewusst gewesen zu sein, dass diejenigen, die zur Krippe kommen, nicht nur über hohe Hügel, sondern auch durch tiefe Täler gegangen sind. Er komponiert eine Strophe, die dunkel und auf den ersten Blick so gar nicht weihnachtlich klingt, die aber wohl jedem einleuchtet, der als reifer Mensch zur Krippe kommt:

Ich lag in tiefster Todesnacht Du warest meine Sonne Die Sonne die mir zugebracht Liecht leben freud und wonne. O Sonne die das werhte liecht/Des Glaubens in mir zugericht, wie schön sind deine Strahlen.

Gerade weil das so ist, weil die Christnacht die Todesnächte, die man so oder so erlebt hat, weder zuschneit noch verpuderzuckert, ist Weihnachten ein Fest der Hoffnung und der Erwartung. Ein Fest der Hoffnung und der Erwartung für diejenigen, die noch etwas wollen, die sich nicht, so oder so, mit ihrem Leben abgefunden haben oder einfach satt sind. Auf den Weg zur Krippe machen sich Menschen in Aufbruchstimmung, Menschen die aufbegehren gegen ein vorgekostetes und vorverdautes Leben. Der Weg zur Krippe führt vorbei an den Lichtern der Märkte und Moden, vorbei an den großen Schildern der Meinungsmacher, Blogger und Influencer. Zur Krippe muss man finden wollen, und jeder Weg dorthin ist anders. Das haben auch Maria und Josef, die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland je auf ihre Weise gewusst.

Vielleicht ist es also kein Zufall, dass wir hier angekommen sind. Vielleicht ist es doch nicht nur „The same procedure as every year“. Vielleicht sind wir hier, weil wir das wollen, was an der Krippe mit uns geschehen kann. Manchmal weiß man ja erst, wonach man auf der Suche war, wenn man es gefunden hat.

Liebe Gemeinde, es mag Zufall gewesen sein, aber vor ein paar Tagen – beim Warten in der Einkaufschlage – hörte ich, wie sich zwei Familienväter miteinander unterhielten. Es ging um die Weihnachtsfeiern ihrer Kinder und was da jeweils so passiert war. Einer der beiden berichtete: Bei uns in der KiTa wurden ziemlich viele Lieder gesungen, du weißt schon, die, wo der Jesus drin vorkommt. Ich mache mir ja sonst nichts aus dieser christlichen Interpretation von Weihnachten, aber das war eigentlich ganz schön.’ Einen Moment lang stand ich auf dem Schlauch, bis es mir dann klar wurde: Der Mann war offenbar der Meinung, dass das ursprüngliche Weihnachten, was auch immer er darunter verstand, sozusagen nachträglich auch ein christliches Fest wurde. Und ja, wenn man sich nur die meist gespielten Weihnachtslieder dieses Jahres anschaut – von Bing Crosby’s „I am Dreaming of a White Christmas“ über Mariah Careys „All I want for Christmas“ bis hin zu Wham „Last Christmas I gave you my heart“ – keines davon verrät auch nur ansatzweise, warum es an Weihnachten gibt. Auf dieser Hitliste kommt „Ich steh’ an deiner Krippen hier“ nicht vor. Das ist ein bisschen tragisch und sicher auch ein bisschen traurig. Und dennoch, wie dieser von christlicher Tradition offenbar so gänzlich unbeleckte Mann in der Schlange sagte „Aber das war eigentlich ganz schön“, geht mir nach und lässt, je länger ich darüber nachdenke, einen hoffnungsvollen Nachklang zurück. Menschen, auch wenn sie nicht am Hl. Abend in die Thomaskirche kommen, werden ihren Weg zur Krippe finden. Sie werden das anders erleben und mit anderen Worten beschreiben als Paul Gerhardt das zu seiner Zeit tat. Aber irgend etwas sagt mir, dass Gerhardt Recht behalten wird: Der Weg zur Krippe und der Blick hinein sind nicht nur fromme Bilder. Darin artikuliert sich eine Sehnsucht, die tief in uns wohnt und der wir an Weihnachten erlauben, an die Oberfläche zu kommen:

Eins aber hoff ich wirst du mir Mein Heyland nicht versagen Daß ich dich möge für und für Jn bey und an mir tragen: So laß mich doch dein kripplein seyn Komm komm und lege bey mir ein Dich und all deine freuden.


Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.