Ansprache in der Christvesper am Heiligabend, 16.00 Uhr

  • 24.12.2022 , Heiliger Abend
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Ansprache in der Christvesper 16.00 Uhr 2022, Lukas 2,1.14

 

Liebe Gemeinde,

„Zeitenwende.“ Das ist das Wort des Jahres 2022. Bundeskanzler Scholz hat es in seiner Regierungserklärung kurz nach dem Angriff auf die Ukraine benutzt, um den Übergang in eine neue Ära in der europäischen Nachkriegsordnung zu beschreiben. Die Welt danach sei nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Eine Zeitenwende, die einem Angst machen kann, da kommt so etwas hoch, wie es mal früher war in meiner Kindheit in den 80er-Jahren im kalten Krieg. Im Grunde kann ja alles Mögliche passieren, was wir nicht mehr geglaubt haben, dass es passieren könne. Oder es verdrängt haben. Vielleicht erleben wir gerade das Ende der glücklichen Globalisierung und das Ende der Illusion, dass der Markt und der Handel die alles bestimmenden Faktoren sind und losgelöst von der Politik umgesetzt werden könnten.

 

Zeitenwende? Die letzten Monate haben mit uns etwas gemacht. Oder eher, die ganzen letzten Jahre, ständig frage ich mich: Wann war eigentlich dies und jenes, wann haben wir eigentlich das letzte Mal richtig Weihnachten gefeiert mit einer vollen Kirche wie heute, war das vor zwei oder drei Jahren - doch es waren schon drei, oje, auf jeden Fall vor Corona… Vor oder nach Corona –auch so eine neue Zeitachse, auf der ich mich verorte. Was vorher war, verschwimmt irgendwie manchmal im Nebel. Die Krisen scheinen zeitlos miteinander verklumpt zu sein. Die Welt hat sich mit der Pandemie verändert. Und ich mich auch, ich merke immer mal wieder hier und da bin ich verunsichert, irgendwie doch beschädigt und andere sind es auch. Die Welt, wie wir sie kannten, löst sich auf. Und die Zukunft, die sehr anders sein wird, als wir gedacht haben, erschließt sich noch nicht. Auch das ist Zeitenwende.

 

Da tut es gut, sich zu besinnen auf die Weihnachtsgeschichte des Lukas. Was Maria, Josef und die Hirten erleben, es ist auch eine Zeitenwende. Wo die Welt auch nicht mehr dieselbe ist wie davor. Aber auf einer ganz anderen Ebene. Und am Ende zum Guten. Was Maria Josef und die Hirten in der Heiligen Nacht erleben, es hat genug Kraft und Energie, dass auch wir heute uns daran orientieren können. Lukas, der Autor der Weihnachtsgeschichte, bettet all das in die Weltgeschichte ein: „Es begab sich aber zu der Zeit...“ Es erscheinen Kaiser Augustus und Quirinius, sein Oberbefehlshaber, die fest davon überzeugt waren, dass die Götter Rom dazu bestimmt hätten, die Welt zu regieren und den Frieden und das Wohlergehen in diesem Imperium Romanum durchzusetzen. Wer da nicht mitziehen wollte, für den gab es das, was auf Lateinisch „depacare“ heißt. Man kann das übersetzen mit „niederbefrieden“. Kommt uns bekannt vor – und die Menschen und wie viele dabei draufgingen, das war und ist denen egal, die von der „Pax Augusta“ träumten oder vom „Ruski Mir“. Steuererhebungen und Volkszählungen nutzte man als bürokratisches Mittel zur besseren Kontrolle der besetzten Gebiete.

 

Es ist der Evangelist Lukas, der diesen Menschen Namen gibt und sie aus der Bedeutungslosigkeit herausholt. Menschen, die wie wir vielleicht auch irgendwie überfordert sind vom Weltgeschehen und wieder ihren Platz suchen müssen, herumirren und erst mal mit Provisorien zurechtkommen müssen wie einem Stall. Und was da auf sie zukommt an Zeitenwende in diesem neugeborenen Kind, das ahnen sie noch gar nicht. Vielmehr macht es ihnen erst einmal Angst. „Sie fürchteten sich sehr“, heißt es von den Hirten, als der Engel zu ihnen tritt. Beziehungsweise „sie fürchteten große Furcht“ steht da wörtlich, und das ist keine ungeschickt formulierte Übertreibung des Lukas. Engel sind keine sanften Boten. Schon ein einzelner kommt mit überwältigender Macht. Die Hirten waren starr vor Schreck. Es brach etwas Unvorstellbares in ihren Alltag ein. Etwas, wofür sie keine Begriffe hatten. Es kam unvermittelt, auf einen Schlag und mit einer Gewalt, der sie nichts entgegensetzen konnten. Ein Licht in der Nacht. Aber ein Licht, wie sie noch nie eines gesehen hatten. Nicht von dieser Welt. Vielleicht verstehen wir ja in diesem Jahr an der Weihnachtsgeschichte die Furcht der Hirten besonders gut, haben wir doch erlebt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen, haben mit eigenen Augen gesehen, wie wenig es braucht, dass vor unserer Haustür alles aus den Fugen gerät.

 

Das macht uns Angst, das ist immer so. Aber der Engel ändert die Blickrichtung der Hirten und auch unsere: „Fürchtet Euch nicht!“ Alles, was ihr jetzt sehen und begreifen werdet, wird Eure Furcht in den Hintergrund drängen. Lasst Euch ab jetzt nicht mehr von Eurer Furcht leiten. In dieser Nacht hat die Zukunft ihre Richtung geändert. Was da geschieht, betrifft uns alle. In allem, was wir sind, die ganze Welt. „Denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Die Hirten wollen es sehen. Sie ahnen: Was da gesagt wird, ist von anderer Qualität als dass ihnen jemand sagt: Keine Sorge, es wird schon wieder besser werden. Oder: Es wird alles, wie es mal war. Oder es wird alles so, wie es Eurem Wunschbild von einer heilen Welt entspricht. Und es ist auch keine billige Vertröstung, die die Probleme dieser Zeit im Weihnachtsglitzer wenigstens mal für ein paar Tage ausblendet, keine Ablenkung. Was sie finden, ist ein Kind. Neugeboren, hindurchgerettet durch schwierige Umstände, dem Leid abgerungen. In all den politisch und sozial bedrückenden Zeiten, die im Hintergrund dieser Geschichte erkennbar sind. Sie bleiben auch in dieser Geschichte, sie sind nicht plötzlich weg. Es ist eine Illusion, der wir uns gern hingeben, dass wir die Dunkelheit auslöschen wollen, anstatt sie durchleuchten zu lassen. Aber die Hirten gehen mit einem neuen Blick zurück in ihr Leben, vergewissert, dass eine Zeitenwende begonnen hat, in der sie ihr Leben leben können. Das gleiche Leben, aber unter völlig anderen Vorzeichen. Und mit einer Perspektive, die sich in dieser Heiligen Nacht neu aufgetan hat. Hier, in diesem Kind, hat ein ganz neuer, unerhörter Prozess begonnen. Eine Zeitenwende, die Zeitenwende schlechthin. In diesem Kind teilt Gott unsere Verletzlichkeit, hier weckt er in uns auf, was zu unseren besten Seiten gehört: zu lieben. Sich zu erbarmen. Und sich selbst im Spiegel dieses Kindes zu erkennen: Davon lebe ich doch selbst, das ist doch das Eigentliche, was ich brauche im Leben: dass mich jemand liebt und dass jemand mich so erträgt und verrückterweise sogar mag, wie ich bin. Das hält Himmel und Erde zusammen, dass das unter uns geschieht!  

 

Hier geschieht es durch Gott. Zumal sie im Holz der Krippe und in den gewickelten Windeln schon angedeutet sind, das Kreuz und das Leinentuch, das an Ostern zurückblieb. Wir sehen an der Krippe die Liebe, die den Tod überwinden wird und mit ihm all die, die diese Welt mit Unfrieden überziehen, deren Macht auf Angst basiert und unsere Ängste zu instrumentalisieren versuchen. Seit dieser Nacht gehören wir dem Himmel. Alle. Das ist die Zeitenwende, die ihren Namen verdient wie keine andere. Immanuel, Gott für uns, für uns geboren. Für mich. Wir erleben diese Zeitenwende heute. In der Bibel bedeutet sich an etwas zu erinnern, wie wir es heute tun, auch, dass es sich vergegenwärtigt. Was geschehen ist, geschieht auch jetzt. Jetzt ist er da, Immanuel, Gott für uns, jetzt richtet er unsere Zukunft neu aus. Es gibt allen Grund zu hoffen, nichts an dieser Welt ist aussichtslos. Deshalb weicht bei allen, die an der Krippe waren, die Furcht, die sie bestimmt hat. Sie gehen mit großer Freude zurück in ihr Leben, alle, die Hirten und später auch die weisen Könige.

 

Und ich wünsche uns allen, dass wir das heute auch können. Dass wir uns von der Energie dieser Weihnachtsgeschichte und ihrer Bilder aufladen lassen und von jedem Weihnachtslied, von jedem Ton, den wir singen und hören, dass wir es uns erlauben, hier einzutauchen und gewahr zu werden: Die Zeitenwende in dieser Geschichte, sie steht über allem, hinter sie gibt es kein Zurück. Denn uns ist heute der Heiland geboren. Amen.

 

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org