Ansprache in der Motette am 29. Januar 2022

  • 29.01.2022
  • Rev. Dr. Robert G. Moore

Ansprache zu Motetten in der Thomaskirche zu Leipzig

29. Januar 2022 um 15.00 Uhr

The Reverend Dr. Robert G. Moore, Gastpfarrer und Vertreter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika

 

Lesung: Matthäus 17,1-9: Die Verklärung Christi

1Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. 2Und er wurde verklärt vor ihnen, und 
sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. 3Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. 4Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine. 5Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: 
Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!

6Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. 7Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! 8Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein. 9Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.

 

Liebe Motettengemeinde,

Alltagstrott – das eines der Wörter, die ich als Ausländer erst lernen musste. Alltagstrott: den Teppich saugen, und am nächsten Tag muss der gleiche Teppich wieder gereinigt werden. Morgens die Zähne putzen, und bevor wir ins Bett gehen, müssen sie wieder geputzt werden. Ein Geschäftsjahr beenden, und am nächsten Tag beginnt es von neuem. Unser Leben geht weiter, obwohl jeden Moment ein Teil des Lebens zu Ende geht.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es nur sehr wenige Filme über die immer wiederkehrenden Abläufe in unserem Leben, über den Alltagstrott gibt? Aber wer möchte schon stundenlang zusehen, wie der Alltagstrott eines anderen Menschen an uns vorbeizieht, wie er oder sie die Wäsche wäscht, den Müll entsorgt oder zur Arbeit fährt und wieder zurückkehrt.

Nein, wir wollen Filme, die uns einen Einblick in die außergewöhnlichen Momente des Lebens geben. Wir wollen die Filmstars, die spannende, interessante Figuren darstellen, die die intensiven, dramatischen Momente eines Lebens einfangen: keine Langeweile des Alltagstrotts. Dazu gehören dann auch völlig verrückte Momente, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun zu haben scheinen – Momente, die angesiedelt sind zwischen Himmel und Erde. Solche Momente heben uns heraus aus dem Alltagstrott und lassen uns mit dem in Berührung kommen, was wir Transzendenz nennen: Vorgänge jenseits des Wirklichen.

Die Bibel ist voll von solchen mysteriösen Vorgängen. So machte Mose mitten in seinem Alltag die Erfahrung von göttlicher Transzendenz, einer jenseitigen Wirklichkeit. Bei seiner Arbeit als Hirte erspäht er einen brennenden Dornbusch, der aber nicht vom Feuer verzehrt wird. Er geht zu dem brennenden Busch und hört die Stimme Gottes. Diese beauftragt ihn, nach Ägypten zurückzukehren, wo er auf der Liste der "Meistgesuchten" steht. Dort soll er den Auszug der Israeliten organisieren, wobei Gott sie bei Tag als Wolke und bei Nacht als Feuersäule führen wird.

Nachdem Mose die Israeliten aus der Sklaverei geführt hat, kehren sie zum heiligen Berg Sinai zurück. Mose geht auf den Berg, um mit Gott zu sprechen. Dort bekommt er eine solche Dosis von Gottes Herrlichkeit ab, dass, als er ins Lager zurückkehrt, sein Gesicht nur noch glüht. Die Menschen können ihn nicht mehr erkennen, weil er einen Schleier trägt, um sie vor dem Licht zu schützen.

Solche "Theophanien", auf Deutsch: Erscheinungen, finden sich auch im Neuen Testament. Wir haben die Geschichte von der Verklärung Christi aus dem Matthäusevangelium (gerade in der Fassung von Johannes Weyrauch) gehört. Christus erscheint den Jüngern auf dem Berg. Sein Gesicht verändert sich ebenso wie seine Kleidung. Sie sind strahlend weiß. Petrus, Jakobus und Johannes sind von diesem Erlebnis ergriffen und begeistert. Sie beschließen, Hütten für Jesus, Mose und Elia, zu bauen.

Doch dieses Vorhaben steht im Widerspruch zu dem Auftrag und dem Ziel, den und das Jesus verfolgt. Er ist auf dem Weg nach Jerusalem, wo er wie Mose auch einen Exodus vorbereitet. Zwar will er die Menschen nicht aus dem Land der Sklaverei führen, aber aus dem sklavischen Schicksal von Sünde und Tod. Dafür geht Jesus nach Jerusalem und in seinen eigenen Tod, um dem Tod entgegenzutreten, ihn zu besiegen.

Es war ein wunderlich Krieg,

da Tod und Leben ’rungen;

das Leben behielt den Sieg,

es hat den Tod verschlungen.

Die Schrift hat verkündet das,

wie ein Tod den andern fraß,

ein Spott aus dem Tod ist worden.

Halleluja.

(Christ lag in Todesbanden, EG 101)

So hat Martin Luther den Tod Jesu gedeutet. Kaum hat Petrus, geblendet von seiner Begeisterung, vorgeschlagen, auf dem Berg zu bleiben, verschwinden Mose und Elia. In diesem Moment verkündet eine Stimme aus dem wolkenverhangenen Himmel: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ (Matthäus 17,5b) Damit wird deutlich: Jesus ist nicht dafür da, sich auf dem Berg als göttliche Figur verehren zu lassen. Jesus ist zu den Menschen gesandt. Darum verlässt Jesus den Berg und tritt in den Kampf um Leben und Tod ein. Dieser ergibt sich daraus, dass er treu den Willen Gottes erfüllt.

Liebe Motettengemeinde, wer von uns würde nicht gerne auf dem Gipfel eines Berges bleiben, um sich dort für einen Moment aus dem Alltagstrott herausgehoben zu fühlen? Wer möchte nicht da verweilen, um Krankheit, Leiden, Tod aus dem Weg zu gehen? Aber dorthin sind wir nicht gesandt. Wir werden von Jesus in die Ebene des Lebens geschickt. Dort haben wir die Möglichkeit, auf die Stimme Jesu zu hören, auf seine befreiende Botschaft. Sie verheißt uns Befreiung aus dem Gefängnis des Selbst, auch Befreiung aus dem Nur-Alltagstrott – eine Befreiung, die Jesus durch seinen Tod und die Auferstehung vorgelebt hat.

Jedes Jahr können wir den Weg der Jünger vom Berg der Verklärung Christi in die Niederungen des Lebens nachempfinden, wenn wir in die Fastenzeit eintreten. In dieser Zeit können wir uns bewusstwerden, was Jesus für uns bedeutet. Er überwindet unseren Alltagstrott, auch unsere Selbstbezogenheit durch seine Aussichten auf Gottes neue Welt, seine Zusage der Vergebung und seine Wegweisung für unser Leben hier auf Erden: dem Nächsten zu dienen. Dadurch befreit er uns aus aller Verlorenheit. Davon zeugt auch das Lied, das wir in dieser Motette gemeinsam gesungen haben. In der zweiten Strophe heißt es:

2. für uns ein Mensch geboren

im letzten Teil der Zeit,

dass wir nicht wärn verloren

vor Gott in Ewigkeit,

den Tod für uns zerbrochen,

den Himmel aufgeschlossen,

das Leben wiederbracht:

(Herr Christ, der einig Gotts Sohn EG 67)

 

Das möge jetzt auch für unseren verstorbenen Alt-Thomaskantor Georg Christoph Biller zutreffen: dass für ihn der Himmel aufgeschlossen ist und er in das Leben in Gottes neuer Welt eintreten kann. Amen.

 

Gebet

Christus, du bist Mensch geworden und unser Bruder. So hast du Gott in unser Leben gebracht. In unserer Menschlichkeit willst du

deine göttliche Liebe aufleuchten lassen. Heute stehen wir vor dir mit unserem ganzen Leben,

manchmal strahlend in unserem Vertrauen zu dir, manchmal düster und kalt wie ein erloschenes Feuer. Deine Liebe hat Bestand, jetzt und alle Zeit.

Wir gedenken vor dir unseres Bruders Georg Christoph Biller. Ihm hast du das Leben geschenkt. Ihn hast Du die Gaben der Musik gegeben, um dein Lob zu singen und so deine Schöpfung zu ehren. Hilf uns, das Leben zu schätzen und es zu bewahren, auch indem wir das Leben der Menschen um uns herum unterstützen. Mit den Worten Jesu beten wir:

Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.