Ansprache in der Silvestermotette

  • 31.12.2023 , 1. Sonntag nach dem Christfest, Altjahresabend - Silvester
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 31. Dezember 2023

Liebe Motettengemeinde,

nun liegt das Jahr 2023 fast hinter uns und wir schauen darauf zurück. Gefühlt war es ein Jahr, „das nur die Untergangspropheten glücklich machte.“ (Stefan Cornelius, SZ, 16./17. Dezember). Wenn man sich die Jahresrückblicke anschaut, kann man trübsinnig werden mit einem unabsehbar anhaltenden Dauerkrieg in der Ukraine, den schrecklichen Bildern vom Überfall der Hamas vom 7. Oktober und all dem, was dann kam. Ein Jahr mit Krisen und Konflikten, mit Schreiern und Spaltern.

Wieder einmal, so ist man geneigt zu sagen, denn es handelt sich nicht nur um die Erfahrung eines einzigen Jahres, sondern um die Fortsetzung eines Zustands, der schon seit geraumer Zeit auf vielen Gesellschaften lastet, auch auf unserer. Dass viele von uns in unterschiedlicher Weise das Gefühl haben, dass sich auflöst, was lange selbstverständlich war und dass Ordnungen zerfallen, die uns Sicherheit gegeben haben. Dieses Phänomen überwältigt Staaten und Staatengemeinschaften und auch uns als einzelne. Es beunruhigt uns – auch weil wir wissen, es gibt kein einfaches Rezept, wie man damit umgehen soll. Sozialpsychologen wie Jonathan Haidt, Professor für Psychologie der Stern School of Business in New York, schauen schon seit Jahren auf das, was da passiert. Haidt analysiert den Widerspruch zwischen dem Grundtrieb des Menschen, einerseits etwas aus seiner Sicht Gutes zu wollen, andererseits aber zugleich das Bedürfnis haben, zu etwas dazuzugehören und sich abzugrenzen. Das begründet Staaten wie auch Religionen und hält sie zusammen. Es funktioniert aber nur in klarer Gegnerschaft „zu dem da draußen“, zu „den anderen“. So ist es paradox: Eine Gesellschaft ist nur dann stabil, wenn sie nach außen für Abgrenzung sorgt – aber sie sorgt damit zugleich auch für ihre eigene Instabilität! Denn wie soll sie sich entwickeln? Und wenn dann noch wie verstärkt in den letzten gut zehn Jahren das Bedürfnis nach Abgrenzung in immer kleinere Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft vordringt, so Jonathan Haidt, verstärken sich die Fliehkräfte. Denn Alle haben das Bedürfnis nach Ordnung und danach, sich zu schützen. Und so schlägt das, was einem Bedürfnis nach Gerechtigkeit entspringt, schnell um in Selbstgerechtigkeit und moralische Urteile – die sog. „Cancel Culture“ lässt grüßen. Und das bringt dann die auf der anderen Seite des politischen oder weltanschaulichen Spektrums wiederum in Fahrt. Und so lebt der Mensch auf so viel Ebenen zunehmend und gleichzeitig im Konflikt, dass es ihn überfordern kann. Sprich: Je kleinteiliger sich eine Gesellschaft organisiert, je spezieller auch das Bedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit und je feiner das Messsystem für die eigene Vorstellung von Gerechtigkeit, desto mehr Abgrenzung und Zerfall gibt es folglich auch im größeren Gesellschaftsverbund. Die Fahrt in dieser Zentrifuge erleben wir gerade besonders in den westlichen Gesellschaften. Man schaue sich nur den Megakonflikt in Sachen Antisemitismus und Palästinenserrechte an. Aber es genügt schon die Emotionalität in der Debatte um die Gendersprache, um die Fliehkräfte zu verstehen, die da gerade wirken.

Wenn das denn so ist, wie Haidt und auch andere Sozialpsychologen es analysieren: Was hilft uns denn? Sicher zunächst die schlichte Einsicht, dass der Mensch gar nicht anders kann, als im Konflikt miteinander zu leben und bestehen zu müssen. Und dass es ungeheuer langwierig und anstrengend ist, ihn mit Anstand und Hartnäckigkeit auszutragen. Aber nur so werden wir wohl zusammenhalten können, was zusammengehalten werden muss und die Fliehkräfte in den Griff bekommen.

Dass wir da vielleicht gerade besonders müde sind, ich merke es jedenfalls an mir selbst, das macht mir durchaus Sorge. Die Konflikte nehmen zu, werden kleinteiliger und komplizierter – aber unsere Konfliktfähigkeit und -bereitschaft werden kleiner. Dabei müssten wir uns nicht nur um der Demokratie willen viel mehr daran gewöhnen, dass die Dinge nicht nur in Regierungskonstellationen in Zukunft noch konfliktträchtiger werden – und auch ausgetragen werden müssen. Es ist schlicht normal!

Es ist immer gut zu schauen und innezuhalten an Tagen wie diesen, was einen an solchen Punkten aufrichten kann und denkerisch neu in Bewegung bringt. Gerade wenn man noch nicht genau weiß, wie sich alles konkret gestalten wird. Für mich und ich weiß auch für viele von Ihnen, sind an solchen Punkten Johann Bachs Kantaten hier immer wieder eine Fundgrube der Besinnung. Gerade die gleich zu hörende dritte Kantate des Weihnachtsoratoriums setzt bei diesem Thema an. Und zwar im Chor der Hirten gleich nach dem Eingangschor und dem ersten Rezitativ, Sie haben den Text ja vor sich. Die Hirten hören von der Geburt des göttlichen Kindes, das ihrem Leben Heil und Orientierung verspricht: dass sie hier finden werden, was ihr Leben und Denken verändern wird. Auf diese Nachricht reagieren sie auch erst mal nicht mit großer Freude, sondern mit großer Verunsicherung. So, wie wir immer erst einmal auf Veränderungen reagieren. Das einzige, was sie dabei erst mal nur wissen, ist: Sie müssen so schnell wie möglich nach Bethlehem und sehen, was da passiert ist. Aber – so hält es Bach jedenfalls in dem Chorsatz „Lasset uns nun gehen nach Bethlehem“ fest – es ist noch keinesfalls sicher, wie sie dahin kommen sollen. So ergibt sich im Chor ziemliche Verwirrung – und entgegengesetzte Richtungen. Man beginnt auf dem gleichen Ausgangston, aber die Hirten des Soprans und Tenors laufen die Tonleiter hinauf, die von Alt und Bass hinunter und man landet harmonisch gesehen erst einmal in ganz unterschiedlichen Welten. Erst im Verlauf des Chores kommt man sich näher, hört aufeinander, findet den gemeinsamen Weg - und letztlich einen tragfähigen Schlussakkord. Und darauf kommt es an! Ich finde, dieser kleine kurze Chor ist ein großartiges Lehrstück für das, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Ein Musterbeispiel dafür, mit einem der Grundprobleme unserer Gesellschaft umzugehen und den einen Grundton finden zu wollen, den eine Gesellschaft finden muss, wenn sie in Frieden zusammenleben will.

Aber auch dann sind es noch drei reflektierende Stücke, die Bach einfügt, bevor die eigentliche Handlung weitergehen kann. Es braucht seine Zeit.  Drei Reflexionen darüber, was einem denn in bzw. an der Krippe begegnet an dem, was unserem Denken, Fühlen und Handeln einen entscheidenden Anstoß versetzen kann. Da ist zunächst im Bassrezitativ von Trost die Rede: „Er hat sein Volk getröst, er hat sein Israel erlöst.“ Das Wort Trost bedeutet ursprünglich „Vertrag, Bündnis“ – Gott erneuert in diesem Kind seinen Vertrag, sein Bündnis zu den Menschen, er wird in diesem Kind solidarisch mit allen Leiden der Welt – um sie mitzutragen und dann am Ende zu überwinden, wenn der Tod nicht mehr das letzte Wort hat. Nun kann die Freude als Grundhaltung des Lebens Raum gewinnen: Die Freude darüber, geliebt zu sein, vom Himmel, so wie wir sind. So heißt es im folgenden Choral: „Dies hat er alles uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an.“ Das ist die Mitte des Weihnachtsoratoriums, zumindest die inhaltliche – und eigentlich sollten wir diesen Choral nachher alle, zumindest innerlich, mitsingen! Denn zu wissen, ich bin geliebt – das verhindert, dass ich innerlich verhärte.

Und schließlich im Duett von Sopran und Bass geht es um das, was allein uns zum Leben befreit: Um Gunst, Liebe, Treue, Mitleid und Erbarmen. Das sind die Dinge, die die Hirten in Bethlehem in ihrer Tiefe erkennen sollen als Weg zum Frieden für diese Welt und zur Gerechtigkeit unter den Menschen. Und: Es sind Gaben, die Gott nicht nur in die Krippe, sondern auch in uns hineingelegt hat. Stärken wir sie, denken drüber nach, wie wir sie ausprägen können. Darüber sollten wir uns auseinandersetzen und austauschen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Darüber sollten wir uns einig sein, dass es das durchaus streitbare Gespräch sein wird, das die Dinge am Ende voranbringt. Manches werden wir wie Maria auch länger in uns bewegen müssen, damit es Frucht tragen kann. So können wir der Leere unseres Herzens vorbeugen, die Angst gebären kann – Angst, die sich radikalisieren kann.  

Ich hoffe, dass es uns im Jahr 2024 gelingt, wie die Hirten bei Bach konstruktiv den Weg nach Bethlehem zu suchen und gemeinsam dort anzukommen, wo wir letztlich alle hinwollen. Denn dafür steht „Bethlehem“ in der Weihnachtsgeschichte – auf Deutsch bedeutet der Name dieses Ortes „Brothaus“. Es ist der Ort, der uns und alle Welt nährt an Leib, Seele und Geist. Immer wieder geht es drum, diesen Ort zu finden und uns mit unserem im Eingangs-und Schlusschor erwähnten „Lallen“ und unseren „matten Gesängen an der Suche zu beteiligen. Und so auch an dem mitzuwirken, worum wir Gott am Ende dieser Motette wie jedes Jahr bitten: „Dona nobis pacem.“ Gib uns Frieden. Inneren und äußeren. Amen.

Pfarrerin Britta Taddiken, taddiken@thomaskirche.org