Ansprache in der Silvestermotette 2021

  • 31.12.2021 , Altjahresabend - Silvester
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am Silvestertag 2021

Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium (BWV248) Kantate III:

Alt - Arie: Schließe, mein Herze, dies selige Wunder fest in deinem Glauben ein! Lasse dies Wunder der göttlichen Werke immer zur Stärke deines schwachen Glaubens sein!

Alt-Rezitativ: Ja, ja, mein Herz soll es bewahren, was es an dieser holden Zeit zu seiner Seligkeit für sicheren Beweis erfahren.

Choral: Ich will dich mit Fleiß bewahren, ich will dir leben hier, dir will ich abfahren. Mit dir will ich endlich schweben voller Freud ohne Zeit dort im andern Leben.

 

Liebe Gemeinde,

das Jahr 2021 geht zuende. Und wir ziehen Bilanz. Corona hat uns beeinflusst, verunsichert, verärgert – und viele sterben lassen. Die Flut im Ahr-Gebiet, die Taliban haben Afghanistan übernommen und da sind immer noch die Menschen, die an der Grenze zwischen Polen und Weissrussland ausharren. Aber da ist auch: die Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Ärztinnen und Pfleger leisten Großartiges in den Krankenhäusern, Leute sind zum Aufräumen in Flutgebiete gereist und haben anderen geholfen, die sie gar nicht kennen. Und auch Geflüchteten wird ganz praktisch geholfen, oft im Stillen. Was überwiegt, wenn wir zurückschauen, Dunkles oder Helles, Licht oder Schatten? Oder alles zusammen – wie es ja meist bei der persönlichen Rückschau ist, dass da beides ineinandergreift, und man manchmal emotional doch ganz schön in den Spagat musste? Bei mir war es Chemotherapie, Krebsoperation und Strahlentherapie auf der einen Seite, auf der anderen ein unwahrscheinliches Gefühl der Dankbarkeit, dass mir so viel geholfen worden ist. Dass wir die Glockenweihe feiern konnten. Und wir auch weiterhin an der Thomaskirche mit wunderbaren Kantoren und Organisten beschenkt sind und sich auch sonst schon manches, von dem ich dachte: "Wie soll das bloß werden", so langsam aber sicher zu etwas entwickelt, was Zukunft hat. Mit diesem Blick kann ich für mich sagen, es war trotz allem Furchtbaren, trotz Schmerz und Tränen ein gutes Jahr. Vielleicht geht es Ihnen auch so bei Ihrer persönlichen Bilanz: Es kommt sehr darauf an, wie man auf die Dinge schaut. Und ob man sie einem zweiten, dritten, vierten Blick unterzieht. Es kommt eben nicht nur darauf an, über die Dinge an sich nachzudenken – sondern vor allem auch, wie man über sie nachdenkt. Und was sich da verändern kann – bzw. man sich verändern lässt.

Das wird auch in der Geschichte thematisiert, die wir vor einer Woche gehört haben: der Weihnachtsgeschichte. Wir hören gleich - in kleiner Besetzung aber der guten Tradition zu Silvester folgend - einen Teil aus der dritten Kantate des Weihnachtsoratoriums, wo die Hirten die Krippe wieder verlassen und aller Welt erzählen, was sie dort gesehen und erlebt hatten. Und wo Maria all das, was da gerade geschehen war, in ihrem Herzen bewegt. Die Geburt ihres Kindes, das dieser kranken und verletzten Welt das Heil bringen wird. So wie für sie die Krippe zu einem Ort des Nachdenkens wird, auch über sich selbst, soll sie es nach den Worten der Alt-Arie für uns alle werden: „Schließe, mein Herze, dies selige Wunder fest in deinem Glauben ein! Lasse dies Wunder der göttlichen Werke immer zur Stärke deines schwachen Glaubens sein.“ Johann Sebastian Bach schaut so auf das weihnachtliche Ereignis, dass es jederzeit in uns wirken möge, was auch immer wir gerade erleben und was uns durch Kopf und Herz geht: In diesem Kind sind Gott und Mensch vereint. Untrennbar hat Gott sich mit unserem Leben verbunden und mit allem, was wir darin erleben, was wir zu tragen haben und wo wir uns freuen dürfen an dem, was wir geschafft haben. Hier ist die Basis gelegt, der Grund, auf den wir alles beziehen können, was uns in unserem Leben begegnet. Dieses Kind wird mit uns leben, es wird mit uns sterben und es wird uns den Weg dahin bahnen, wo wir das eigentliche und letzte Ziel unseres Lebens erwarten dürfen. „Mit dir will ich endlich schweben voller Freud ohne Zeit dort im andern Leben“ heißt es im abschließenden Choral der dritten Kantate. Wer um dieses Ziel seines Lebens weiß, so Bach, und wer dieses weihnachtliche Wunder in sein Herz lassen kann, der darf sich „selig“ nennen. Denn es wird alles beeinflussen, was ich erlebe im Guten wie im Schweren. Und es wird beeinflussen, wie ich auf die Dinge schaue. Ob ich mich in allem, was völlig neu und unberechenbar auf mich zukommt, dennoch getragen weiß. Ob ich es schaffe, mich darauf einzustellen und anzunehmen, was eben gerade ist, wofür niemand etwas kann, und was eben einfach passiert.

Das ist wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen, vor die Corona uns stellt: Dass es ein Zurück zu dem, wie es mal war, so ohne Weiteres nicht geben wird. Dass anderes „normal“ werden wird im Gegensatz zu früher. Dass wir das tun, wo wir wahrscheinlich immer noch ganz am Anfang sind: Unser Zusammenleben neu zu organisieren, mehr aufeinander zu achten, Rücksicht zu nehmen und viel konstruktiver und fantasievoller mit der Situation umzugehen, wie sie nun mal ist. Nachzudenken, wie wir vielleicht leben sollten, welche Prioritäten wir setzen, was wir lassen sollten usw. Das ist vielleicht mit die größte Aufgabe für uns als Gesellschaft für 2022 und sicher auch für die kommenden Jahre. Es ist eine Aufgabe für die Politik aber auch für jeden einzelnen, da alles letztlich immer bei einem selbst beginnt. Und was sich da verändern kann, wenn ich wie Maria an der Krippe stehe und alles durch mein Herz ziehen lasse, was ich in den letzten Tagen, Wochen, Monaten gehört, gesehen und gelesen habe. Wenn ich darin einen festen Bezugspunkt habe, so wie sie oder auch wie die Hirten, die mit Sicherheit verändert zu ihren Herden zurückgekehrt sind, dann wird mich all das, was anders werden wird als gedacht in meinem Leben, möglicherweise nicht so sehr aus der Bahn werfen, dass ich langfristig meine Fassung verliere. Dann mag mir bei allem, was da kommen wird, das weihnachtliche „Fürchte Dich nicht“ lauter in den Ohren klingen als das, was meine Angst tief in mir zusammenraunt. So können wir Marias Worte aus dem Weihnachtsoratorium mit einer kleinen Veränderung zu unserem Gebet für das neue Jahr werden lassen: „Lasse dies Wunder der göttlichen Werke immer zur Stärke meines schwachen Glaubens sein.“ Amen.  

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org