Ansprache zur Sylvestermotette 2023 Kantate IV aus dem Weihnachtsoratorium von J. S. Bach (BWV 248/IV)

  • 31.12.2022 , Altjahresabend - Silvester
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Ansprache zur Sylvestermotette 2023 mit Aufführung der Kantate IV aus dem Weihnachtsoratorium von J. S. Bach (BWV 248/IV), St. Thomas zu Leipzig um 13.30 Uhr

Der Text der Kantate ist hier zu finden:

BWV 248IV (ualberta.ca)

 

Liebe Motettengemeinde,

„22 ist nicht 89. Wir leben in keiner Diktatur“. Dieses Banner hängt an drei Leipziger Kirchen und hat im Herbst für, sagen wir mal, Diskussionen gesorgt.

„Wie könnt ihr nur so etwas an die Kirche hängen? Das stimmt doch nicht!“ rufen die einen.

„Endlich zeigt sich die so oft schweigende Kirche in der Öffentlichkeit und bezieht Position“ sagen die anderen.

Wenn Menschen durch unsere Stadt an den Kirchen vorbeiziehen und sagen „22 ist wie 89“ oder „Wir leben in einer Diktatur“, stimmt dies schlichtweg nicht.

Und wenn kaum jemand widerspricht, dann tun wir das eben, liebe Gemeinde.

Warum lösen zwei Sätze so viel Emotion aus?

22 ist nicht 89. Das ist ein zutiefst logischer Satz – sagt mir zumindest der Blick in den tractatus des Philosophen Wittgenstein.

22 ist wie 89 - wäre allerdings ein völlig unlogischer und daher sinnloser Satz.

Blicken wir nun auf den anderen Satz.

„Wir leben in keiner Diktatur.“ Hier gilt das Gleiche.

Denn unsere Gesellschaft ist nach den Formen einer repräsentativen Demokratie gestaltet und diese Formen sind im Grundgesetz respektive der Verfassung fest verankert. Würden wir jedoch den Satz „Wir leben in einer Diktatur“ an die Kirche heften, wäre das heute wiederum nach den Regeln der Logik ein sinnloser Satz ähnlich dem Satz „Emil ist ein verheirateter Junggeselle.“ 1989 war das anders. Da stimmte der Satz, denn damals lebten in der Diktatur der Arbeiterklasse.

Also das, was eigentlich logisch ist und auf unbedingte Zustimmung stoßen müsste, regt auf. Und da stellt sich die Frage nach dem Warum?

Sie zu beantworten ist schwierig.

Eine Antwort könnte sein, dass wir Menschen uns zunehmend weniger von logischen Argumenten leiten lassen, als denn von gefühlten Wahrheiten oder Emotionen.

Vermutlich, und damit verlassen wir natürlich den Pfad der Logik, vermutlich also wäre ein Banner an der Thomaskirche mit dem Satz „Die Erde ist eine Scheibe“ weniger aufregend. Vermutlich würden viele Menschen sagen „Ja, das passt zur Kirche. Die sind sowieso noch im Mittelalter stehen geblieben.“

Kirche und christliche Gemeinde haben gerade wegen ihrer Geschichte heute die Aufgabe, Unwahrheiten aufzudecken, selbige auch zur Sprache zu bringen und ganz im Sinne des Heiligen Thomas, den Finger in die Wunde zu legen.

„Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen

Das Heil, für das du uns geschaffen hast.“

Ein aufwühlendes Jahr liegt hinter uns, ein Jahr der unterschiedlichen Krisen, denen es gefiel, sich miteinander zu vernetzen. Solch Krisennetzwerk tut niemandem gut und wir suchten und suchen weiterhin mit einer gewissen Verzweiflung nach Möglichkeiten, das Krisennetzwerk zu entflechten und aufzulösen. Denn wir merken: Es geht plötzlich auch uns an.

Die Auswirkungen von Krieg und Flucht sind direkt zu spüren im eigenen Lebensalltag.

Die Verwerfungen im Umgang mit der Schöpfung führen zu weiteren Verwerfungen.

Der Kampf um Ressourcen findet plötzlich im eigenen Haushalt statt. Dabei müssen wir neu lernen, Dinge richtig und schnell einzuschätzen.

Dietrich Bonhoeffer, dessen vertontes Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ wir eben gesungen haben, schrieb seine Zeilen im Gefängnis. Er schrieb sie als Trost für seine Lieben und als ehrliches Zeugnis seines eigenen Glaubens. Ob jeder den bitteren, mit Leid gefüllten Kelch dankbar und ohne Zittern annehmen kann? da tauchen bei mir Fragezeichen auf. Auf Bonhoeffers Glaubensweg sind die Fragezeichen für ihn zu Ausrufezeichen geworden. Er konnte sein Leid annehmen. Das beeindruckt auch heute noch. Andere Menschen können es nicht und zerbrechen an den Leiderfahrungen des abgelaufenen Jahres im eigenen Leben. Auch ihnen gilt der Trost des in der Seelennacht scheinenden Lichtes. Jesus Christus kommt als Licht der Welt in unsere Finsternis. Vor einer Woche feierten wir dieses Ereignis.

Wir feiern deshalb, weil es so ungemein wichtig ist, Hoffnungsschimmer zu haben. Wir feiern das Licht der Welt, weil seine Erleuchtung von Herz und Verstand uns in Verantwortung vor Gott und dem Nächsten leben lässt.

Liebe Motettengemeinde,

das Jahr 2022 hat uns gezeigt: Wir brauchen mehr Energie - und zwar auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Nur mit ausreichend Energie lässt sich Leben gestalten. Wo es Energieüberschuss gibt, entstehen Fortschritt und Weiterentwicklung unserer Gesellschaft, die das Leben vieler, vieler Menschen bereichert und deren Lebensumstände verbessert.

Ausreichend eigene Energie ist die Voraussetzung dafür,

dass wir uns für andere Menschen einsetzen können, dass wir kreativ bleiben, um Probleme zu lösen

dass wir robust bleiben, wenn innere und äußere Feinde wüten und toben, wie es der Eingangssatz der Kantate beschreibt.

Suchen wir also nach Energiequellen, die uns helfen, die innerliche und äußerliche Energiekrise zu überwinden.

Für die äußerliche wird Politik verantwortlich sein und es bleibt zu wünschen, dass nicht nach den Regeln der Ideologie, sondern nach den Regeln der Logik gehandelt wird.

Für die innere Energiekrise brauchen wir etwas, dass im Laufe der kirchlichen Geschichte leider eine nicht ganz so gute Konnotation hat – Demut.

Ich wünsche uns für das neue Jahr 2023 mehr Demut, also jene Eigenschaft, die den Menschen realistisch einschätzt im Verhältnis zu Gott und der Schöpfung. Dabei geht es selbstverständlich nicht um ein heuchlerisches Kriechertum oder um zur Schau gestellte Demut. Ganz im Gegenteil.

Demütig sein heißt, sich in Gottes Sohn verankert zu wissen und aus seiner Zuwendung die Lebensenergie zu ziehen ganz gleich, wie düster und aussichtslos eigene Gegenwart ist. Demut führt zu Gottvertrauen.

 

An zwei Stellen der Kantate, die wir gleich hören werden, wird diese Einstellung eindrücklich in Musik gefasst. Da ist zunächst der Eingangssatz.

„Mit Danken und Loben vor des Höchsten Gnadenthron zu fallen“ ist die Antwort des weihnachtlich Beschenkten. Gottes Gnade wird in Jesus Christus greifbar. Sein Thron ist kein Herrschersitz eines Diktators, sondern sein Thron ist die unerschöpfliche Quelle göttlicher Liebe zu mir als Mensch.

An anderer Stelle hören wir den Tenor in der Arie singen:

 

„Ich will nur dir zu Ehren leben, mein Heiland, gib mir Kraft und Mut, dass es mein Herz recht eifrig tut! Stärke mich, deine Gnade würdiglich und mit Danken zu erheben!“

Hier finden wir die Energiequelle für ein gelassenes Gottvertrauen. Und hier finden wir die einzig richtige Antwort auf das Gloria der Engel am Weihnachtstag.

„Ehre sei Gott in der Höhe“ heißt, Gott mehr zu vertrauen als den Menschen und daraus die Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen. „Gott zur Ehren leben“ geschieht dort, wo sich Gottesliebe und Nächstenliebe im eigenen Alltag miteinander verbinden.  

Aus dem „Soli mea Gloria“ wird das „Soli Deo Gloria“.

Dafür brauchen wir die Energie eines gestärkten Herzens. Amen.

 

Pfarrer Martin Hundertmark

(hundertmark@thomaskirche.org)