• 23.12.2023

Ansprache Heiligabend 2023

Liebe Gemeinde,

wenn wir die Orte aus der Weihnachtsgeschichte hören: Galiläa, Nazareth, Bethlehem, dann können wir nicht anders als an das zu denken, was sich auch in diesen Stunden abspielt in Israel und Gaza, im Heiligen Land, im gelobten Land der Bibel, das all diese Gebiete umfasst hat. Wir denken an die Menschen in ihrer Angst um ihre Angehörigen, an alle, die verletzt sind an Leib und Seele, die als Geiseln in irgendwelchen Tunneln hocken oder auf der Flucht sind vor dem nächsten Bombardement. Frauen, Kinder, Männer, Menschen wie wir, die Unschuldigen leiden wie immer am meisten. Der in Haifa geborene Philosoph Omri Boem hat das im November in seiner Rede zur Eröffnung des Münchner Literaturfests so auf den Punkt gebracht: „Vielleicht ist gerade dies die Definition einer finsteren Zeit: eine, in der die Idee von der Menschheit in Bedrängnis gerät.“ Wo das passiert, geht es ganz schnell wie bei all dem, was am 7. Oktober in Israel passiert ist im Kibbuz Be‘eri, beim Super Nova Festival bei Re’im. Oder in Butscha in der Ukraine. Oder oder oder… Es geht ganz schnell, die Erfahrung zeigt immer wieder, wo der Gedanke ist, ist die Tat nicht weit. Und sie macht uns hilflos, weil wir immer wieder merken, wir müssten doch mit der Tatsache umgehen können, dass es Leute gibt, die so unmenschlich sind, dass es nicht zu fassen ist. Die im anderen den Mitmenschen nicht mehr sehen wollen und ihn vernichten wollen. Ja, es ist finstere Zeit, wo die Idee von der Menschheit in Bedrängnis gerät - und uns das immer wieder von Neuem sprachlos macht und verunsichert.

Hier nun aber setzt Weihnachten an. Die Weihnachtsgeschichte, die wir gehört haben, beschreibt auch solch eine Zeit - historisch gesehen rund um das Jahr 0 im gelobten Land. Menschen werden auf einen Fingerzeig des römischen Kaisertyrannen kreuz und quer durch das ganze Land geschickt. Ein Menschenleben ist ihm egal, seine Steuer nicht. Aber es ist eben bei weitem nicht nur Historie, die in der Weihnachtsgeschichte beschrieben wird, sondern ein Geschehen, das alle Zeiten und alle Orte berührt, in denen sich diese Form von Finsternis breit gemacht hat. Und sie zeigt uns zugleich - und auch da ist sie zeitlos: Hier ist zugleich der Ort, an dem wir Hoffnung finden werden. Denn Weihnachten wird es nur mitten in dieser unmenschlichen Finsternis. Nur wenn man das begreift, versteht man, worum es Weihnachten eigentlich geht.

Und so verlängert sie sich – die Weihnachtsgeschichte - in unsere Lebensgeschichten hinein. So wie in die des jungen Mannes Tomer, der zu den Überlebenden des Festivals vom 7. Oktober gehört. Er ist zutiefst gezeichnet davon, ein Mensch, dem der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Aber es ist keine Wut, kein Rachegedanke, kein heiliger Zorn zu spüren, wie auch bei keinem einzigen, der noch interviewt wird in dem Dokumentarfilm „Renn um Dein Leben“. Tomer, einst bei einer Spezialeinheit der israelischen Armee, sucht am Ende des Films nach Worten: "Wir haben die Hoffnung, dass wir drüber wegkommen werden… mit Gottes Hilfe. Wir wollen keinen Krieg. Wir wollen Frieden. Das ist doch der Grund, weshalb wir die Party gemacht haben. … Gutes gegen böses Licht und dass die Leute verstehen, was das gute Licht ist und dass es siegen wird. Da glaube ich wirklich dran.“

Tomer hat mich beeindruckt, weil er dem entgangen ist, was man „Terrorfalle“ nennen kann. Denn der Terror ist listig, er infiziert das Opfer und macht seinen Gegner sich selbst ähnlich. Er verführt uns, weil er in uns alles auf den Kopf zu stellen vermag - vor allem die eigenen Werte umzuwerten. Und suggeriert, dass es nicht Zeit des Denkens sei, sondern dass man schnell reagieren muss, etwas machen, Handeln. Schluss mit Reden, Denken und so vielem, was wir dann schnell als bloß für Sonntagsreden oder Weihnachtspredigten geeignet abtun oder Gutmenschen schimpfen, die an ihren Überzeugungen festhalten! Wie schnell können wir da aus der Spur geraten weil uns das Ereignis drängt! Und ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich das so könnte wie Tomer in seiner Situation, erst mal so beim Denken zu bleiben. Aber noch mehr hat mich berührt, dass er im Grunde die Weihnachtsgeschichte auf sich selbst bezogen erzählt hat. Tomer vertraut auf das „gute Licht“: Dass der Mensch im anderen den Menschen sehen kann, auch wenn es finster ist. Und das es seine Bestimmung ist, nach Frieden und Gerechtigkeit zu streben. Das „gute Licht“, Tomer vertraut darauf: Es wird sich durchsetzen, wo die Finsternis herrschen und wo der Terror unsere Herzen besetzen will. Das gute Licht wird siegen. Tomer selbst ist das beste Beispiel dafür, wozu Menschen in der Lage sind, die durch dieses Licht wieder instandgesetzt werden, bewegt, neu ausgerichtet.

Die Weihnachtsgeschichte beschreibt das als „die Klarheit des Herrn“. Es ist das „gute Licht“, das in der Weihnachtsgeschichte den Hirten leuchtet – und allen anderen Menschen. Denn diese Geschichte redet von der Menschheit. Auch wenn sie ansetzt in der konkreten Historie, sie tut es auf Grundlage der Idee der Menschheit. Von der einen Menschheit. Sie redet von aller Welt, die geschätzt wird, von jedermann, der sich auf den Weg macht…der Engel spricht von Freude, die allem Volk widerfahren wird. Und vom Frieden auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Bei den Menschen – nicht bei Juden, Christen, Moslems, Religiösen, Halbreligiösen, Atheisten, bei den Menschen. Einfach nur Menschen. Hirten nennt sie die Weihnachtsgeschichte, sie sehen ein Licht, die Klarheit des Herrn, in dem sie das Maß aller Dinge erkennen sollen: Gott wird Mensch, um die Menschheit zu erlösen. „Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“. Ein Mensch, in seiner ganzen Schwäche, in seiner Armut, in seiner Verletzlichkeit. Der Journalist Heribert Prantl beschrieb das letztes Jahr in einem großartigen Weihnachtstext so: „Ein Kind, der Ernstfall des bedürftigen und hilflosen Menschen, der Mensch in seiner schwächsten Gestalt, ist Maß aller Dinge. Das ist der Ausgangspunkt für ein Weltverständnis jenseits des Rechts der Stärkeren. Das ist der Ausgangspunkt der Wahrheitssuche in den Dilemmata der Wirklichkeit. Das ist der Ausgangspunkt von Ethik und Moral. Nicht Götter gilt es zu ehren; nicht abstrakte Werte gilt es zu schützen; nicht Ideologien gilt es zu retten. Zu retten ist das konkrete Kind, das Kind, das im Trog liegt und schreit.“

Den Menschen anzusehen, immer den Menschen, wie er da liegt und zu sehen: Das sind wir! Und: Das sind die anderen! Und hier ist immer auch Gott! Das ist Weihnachten! Gott ist Mensch geworden, Gott ist zu jedem Menschen gekommen. Und wo er geschändet wird, verhöhnt, verlacht, verletzt, wird Gott selbst geschändet. 

Die Hirten erfahren, was diese Welt retten wird. Sie tun es in dem Moment, da das Licht über ihnen scheint. Das „gute Licht“. Und wo sie verstehen, was es ist. Und das will immer wieder in Erinnerung gerufen werden, deshalb hören wir immer wieder von neuem die Weihnachtsgeschichte, mindestens einmal im Jahr sollten wir das tun. Und das, was die Hirten verstanden haben, im Herzen bewegen, wie es dann Maria tut. Von diesem „guten Licht“ berührt zu sein, kann alles anders machen.

Denn ob die Idee von der Menschheit „in Bedrängnis“ gerät, um es noch einmal mit Omri Boehm zu sagen: Es ist auch an uns, dass wir aufpassen, dass das nicht passiert. Bei uns selbst, in unseren finsteren Schmuddelecken, in denen das nun mal sitzt, alles abzuwerten, was anders ist als ich. Mit dem Vertrauen auf das gute Licht gegensteuern, wie es Tomer offensichtlich kann. Und dass wir auch aufpassen bei dem, was wir politisch denken und entscheiden. Bei dem, was mitten im Alltag durchgehen lassen, wo wir einfach schweigen, zögerlich, weil wir Angst um uns selbst haben. Denn dass die Idee von der Menschheit in Bedrängnis gerät, passiert ja nicht erst da, wo Fürchterliches geschieht wie am 7. Oktober 2023, im Februar 2022 Ukraine, 9. November 1938 u.a. Es geschieht viel früher. Nämlich dort, wo wir uns dem verweigern, was in einem Gebot der sog. „Mischna“ überliefert ist, einer Sammlung mündlicher Überlieferung von Gottes Weisungen im Judentum. Dort heißt es: „Wo es keine Menschen gibt, bemühe dich, menschlich zu sein.“

Omri Boehm, der übrigens den Buchpreis der Leipziger Buchmesse 2024 bekommen wird,  zieht daraus ein Fazit, in dem uns der Geist dessen begegnet, dessen Geburt wir heute feiern: „Was uns (als Menschheit) eint, ist dies: die einzige Möglichkeit, die Leben der Menschen auf der einen Seite als unendlich wichtig zu begreifen, besteht darin, die Leben der Menschen auf der anderen Seite als gleichermaßen unendlich wichtig anzusehen.“

Das ist ein hoher Anspruch. Und immer wieder geht es um die Frage, wie können wir das leben, wie können wir dahin kommen, gerade wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die diese Idee von der universalen Menschheit und Menschlichkeit nicht teilen. Aber was würde werden, wenn wir das aufgeben und dafür nicht mehr eintreten würden? Wir würden uns auch von Gottes weihnachtlicher Idee mit der Menschheit verabschieden. Weihnachten geht es um die Grundlage, auf der wir leben, und auf der wir weiter leben können. Und neu denken, neu handeln, neu hoffen. Das „gute Licht“ - es scheint in der Welt. Und es will uns leiten zu dem, der sich zum Menschen gemacht hat, damit auch wir es sein und bleiben können. Amen.

 

Britta Taddiken, Pfarrerin i.R.

taddiken@thomaskirche.org