Gedanken zum Tag

  • 10.04.2020 , Karfreitag
  • Pfarrer i. R. Christian Wolff

Karfreitag: Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit

Ein zentraler Choral aus der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach (1685-1750) hat für mich schon immer eine besondere Bedeutung:

Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn,

Muss uns die Freiheit kommen,

Dein Kerker ist der Gnadenthron,

Die Freistatt aller Frommen,

Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,

Müsst unsre Knechtschaft ewig sein.

Die dramatische Auseinandersetzung zwischen dem römischen Statthalter Pontius Pilatus, den führenden Leuten, die sich als Anwälte des sog. Volkes aufspielen, und Jesus bewegt sich ihrem Höhepunkt entgegen. Der Versuch des Pilatus, Jesus los zu werden, um eine spektakuläre Verurteilung zu umgehen, scheitert. Der Opportunismus des Pilatus unterliegt dem sog. Volkswillen, sich eines unangenehmen Zeitgenossen zu entledigen. In diesem Moment lässt Bach den Choral erklingen: Durch dein Gefängnis Gottes Sohn muss uns die Freiheit kommen.

Die Botschaft ist aufrüttelnd und einleuchtend zugleich: Die Freiheit des Menschen gründet darauf, dass Jesus sich der Willkür und Brutalität der Unfreiheit, des Volkswillens, autokratischer Herrschaft und dem Opportunismus der Macht ausliefert – also all den Eigenschaften, denen wir uns als Menschen immer wieder hingeben, ohne zu merken, welchen Preis wir dafür zahlen: die Einschränkung unserer Freiheit, eben Knechtschaft. Denn die Menschen, das „Volk“, die „Kreuzige ihn“ skandieren, oder „Absaufen“ und „Volksverräter“ grölen und meinen, sich damit befreien zu können, folgen nur dem Kalkül derer, die die Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit unterbinden wollen. Doch um dieser Befreiung willen geht Jesus die Knechtschaft ein.

In der diesjährigen Passionszeit ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich diese Choralstrophe nicht innerlich und manchmal auch laut singe. Denn bei mir verdichtet sich das Gefühl, als sei unsere Gesellschaft gerade dabei, sich freiwillig wieder in ein Gefängnis zu begeben, in dem Knechtschaft eingeübt und Bevormundung widerspruchslos hingenommen wird. Also gilt auch an diesem Karfreitag das anzumahnen, dem damals die Jünger Jesu nicht genügen konnten: aufpassen, wachen, beten.

Pfarrer i. R. Christian Wolff
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