Gedanken zum Tag

  • 15.07.2020
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

Choräle, Biker und Corona – Abschied vom Turboleben

Es war am vergangenen Sonntag. Nach den beiden Konfirmationsgottesdiensten empfing der Posaunenchor der Kirchgemeinde St. Thomas die Konfirmierten und ihre Angehörigen mit Chorälen vor dem Mendelssohn-Portal der Thomaskirche. Die Jugendlichen sollten beim Auszug nicht ins Leere laufen, sondern eingehüllt werden von den Klängen, die seit Jahrhunderten Menschen in allen Lebenslagen Trost und Stärkung vermitteln. Doch gegen 12.45 Uhr wurden die Bach-Choräle jäh übertönt von ohrenbetäubendem Lärm: Hunderte, Tausende Biker demonstrierten auf dem Ring gegen vorgesehene Fahrverbote für ihre Krachmaschinen. Wenig später stand ich über eine halbe Stunde am Tröndlinring, benebelt von Benzin- und Dieselwolken, die aus den vorbeirasenden, zumeist getuneten Maschinen geblasen wurden. Es gab keine Chance, den Ring zu überqueren. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie sinnvoll und notwendig Fahrverbote für diese Krachmacher sind, dann wurde diese Demonstration dazu.

Wir diskutieren derzeit viel darüber, wie sich durch die Coronakrise unser alltägliches Leben verändert, verändern muss. Da mutet die Botschaft, die von dieser Demonstration ausging, schon makaber an: Wir wollen, dass sich nichts ändert. Wir wollen unseren Spaß haben. Wir wollen auch auf der Straße ungestört Turbogesellschaft praktizieren. Dass dieser Spaß für viele Menschen in den Urlaubsregionen zu einer unerträglichen Belastung geworden ist, habe ich vor vier Woche erlebt. Auf der Straße zum Schauinsland im Hochschwarzwald gilt jetzt schon ein Fahrverbot für Biker an Wochenenden. Doch am Freitag nach dem Feiertag Fronleichnam griff das Verbot nicht. Da konnten Hunderte Biker aus ganz Deutschland ungehindert die kurvenreiche Strecke auf den Schauinsland hochbrettern – ohrenbetäubender Lärm, von waghalsigen Überholmanövern ganz abgesehen. Bei allem Verständnis für das besondere Feeling, das Motorradfahren vermittelt – ist es nicht an der Zeit, dass der Wert der gegenseitigen Rücksichtnahme einen höheren Stellenwert haben sollte als die Möglichkeit, ungehindert dem Turboleben, Turbospaß, Turbokapitalismus zu frönen? Schließlich können wir alles, wonach wir uns sehnen, auch erreichen, wenn wir die Goldene Regel aus der Bergpredigt Jesu im Hinterkopf haben: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ (Matthäus 7,12)

Christian Wolff, Pfarrer i.R.
www.wolff-christian.de