Liedbetrachtung "Nun lasst uns gehn" und Predigt über Römer 15,4-13

In diesem Gottesdienst hielt Thomas Fritzsch, Gambist und Herausgeber des "Telemannischen Gesangbuchs" eine Liedbetrachtung über den Choral EG 58 "Nun lasst uns gehn und treten". Ihr folgt die Predigt von Pfarrerin Britta Taddiken über Römer 15,4-13.

  • 17.12.2017 , 3. Advent
  • Pfarrerin Taddiken

Liedbetrachtung zu EG 58 „Nun lasst uns gehen und treten"

 

Liebe Gemeinde,
unsere Thomaskirche ist - wie zahlreiche andere evangelische Kirchen auch - seit Jahrhunderten voller Musik. Können Sie sich einen Gottesdienst ohne Musik vorstellen? Ich nicht! Ich muß zugeben: Wir werden verwöhnt, sowohl vom Reichtum des musikalischen Angebotes als auch von der Klangschönheit, mit der diese Musik unsere Ohren erreicht und unsere Seelen berührt. Darüber vergessen Menschen mitunter sogar, daß diese Kirche keine Konzerthalle, sondern ein Bethaus ist.

„Wer singt, betet doppelt." Diese Aussage wird sowohl dem Kirchenvater Augustinus als auch dem Augustinermönch Martin Luther zugeschrieben. Haben Sie sich einmal die Frage gestellt, warum in unseren Gottesdiensten so viel gesungen und musiziert wird, warum wir eine Orgel, einen Kantor und einen Organisten haben, warum es die Kantorei mit Thomanerchor, Kurrende, Blockflötenensemble, Posaunen- und Gospelchor gibt und - vor allem - warum wir eine singende Gemeinde sind?

Wir verdanken es Martin Luther, der die Musik als göttliche Gabe begriff und sie auch selbst ausübte - als begeisterter Sänger, als Lautenist und auch als Komponist. Und wir verdanken die „singende Kirche" ebenso dem 13 Jahre jüngeren Johann Walter. Er wurde nach dem Studium in Leipzig Sänger an der Hofkapelle in Torgau. Dort lernte er die Ideen der Reformation kennen und wurde Martin Luthers Freund und musikalischer Berater und der Urvater aller Kantoren.

Walter schreibt in seinen Erinnerungen an Luther: „Ich weiß und bezeuge wahrhaftig, daß der heilige Mann Gottes Luther, welcher der deutschen Nation Prophet und Apostel gewesen ist, zu der Musik im Choral- und Figuralgesang große Lust hatte; mit ihm habe ich gar manche liebe Stunde gesungen und gesehen, wie der teure Mann vom Singen so lustig und fröhlich im Geist wurde, daß er des Singens schier nicht konnte müde und satt werden und von der Musik so herrlich zu reden wußte."

Mit Martin Luther und Johann Walter begann also die evangelische Kirchenmusik. 1524 erschien gedruckt das Achtliederbuch, an dem Luther mit vier Chorälen Anteil hat. Dies war die Geburtsstunde der Schwester der Theologie, wie Walter die Musik nannte. Zu diesen vier Luther-Chorälen gehört „Nun freut euch, lieben Christen g'mein". Wenn wir diesen Choral in unseren Gottesdiensten singen, dann sind wir also über fünf Jahrhunderte hinweg mit den Christen verbunden, die Luthers reformatorische Lehren hörten und ihnen folgten.

Als Luther 1546 starb, waren bereits mehr als 100 unterschiedliche Gesangbücher im Umlauf, und 150 Jahre später erschienen in Städten wie Kleve, Hamburg, Lübeck und Berlin die ersten Territorialgesangbücher. Wäre es jedoch bei dieser Gesangbuch-Kleinstaaterei geblieben, würde Ihnen bereits in der Marktkirche zu Halle Ihr Thomaskirchen-Gesangbuch wenig nützen.

Gott sei Dank hatte der aus dem Kernland der Reformation gebürtige Pfarrerssohn Georg Philipp Telemann im Jahre 1730 eine zukunftsweisende Idee: Er konzipierte die Drucklegung eines einheitlichen evangelischen Lieder-Buches. Mit einem Umfang von über 2000 Gesängen in mehr als 500 Weisen wurde es zugleich eine Bestandsaufnahme des evangelischen Kirchenliedgutes. Telemanns Weitsicht ist nicht genug zu bewundern: Er ist der Inspirator und Urheber unseres Evangelischen Gesangbuches. Leider hat in der Reformations-Dekade niemand daran erinnert. Warum sind wir und die Evangelische Kirche Deutschlands so geschichtsvergessen und so undankbar für dieses Geschenk, dessen Wert nicht zu ermessen ist?

Unsere Thomaskirche gehörte schon zwei Jahrhunderte vor Thomaskantor Johann Sebastian Bach zu den Geburtsstätten evangelischer Kirchenmusik. Gewiß haben Sie häufiger den Choral „Nun lob, mein Seel, den Herren" gesungen. Die ersten vier Strophen dichtete Johann Gramann, Rektor der Thomasschule. Heute singen wir den Choral „Nun laßt uns gehn und treten" auf eine Melodie von Nicolaus Selneccer. Den Text dichtete Paul Gerhardt. Nicolaus Selneccer wirkte in der Thomaskirche als Pfarrer und Superintendent. Die Selneccer-Sakristei ist nach ihm benannt.

Es ist ein großes Glück, daß mein Freund Klaus Mertens in dieser Woche Abend für Abend die Botschaft des Weihnachtsoratoriums zusammen mit dem Thomanerchor singend verkündet. Mit keinem anderen Sänger habe ich so viele Choräle in Konzerten und vor Mikrophonen musiziert. Danke, lieber Klaus, daß Du jetzt in diesem Gottesdienst für uns singst!

EG 58, Strophen 6 - 10

Es ist kaum zu glauben, daß der Choraltext bereits über 350 Jahre alt ist! Auch wenn das Wort „Jammerpforten" in unseren Ohren altmodisch klingt - vom „Blutvergießen" müssen wir noch immer sprechen, und „Freudenströme" fließen auch heute noch. Wenn wir Menschen uns mit schwerem oder übervollem Herzen Gott nähern wollen, fehlen uns oft die Worte und unsere Sprache wird brüchig. Diese Sprachnot beschreibt Paulus im Römerbrief: Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen. Es ist gut, daß Dichter wie Paul Gerhardt Worte gefunden haben, denen wir uns nach wie vor anvertrauen können. Wenn wir in Lebenssituationen geraten, in denen unsere Augen trüb sind und die Stimme brüchig ist, dann sind wir dankbar für jede in unserem Gedächtnis verankerte Choralstrophe! Dann haben wir Worte, um uns an Gott zu wenden. Um darauf vorbereitet zu sein, brauchen wir Texte, die wir auswendig kennen, und diese Texte prägen sich beim Singen zuverlässig ein. Das wußten bereits unsere Vorfahren.

Deshalb ist es klug, manche Choräle immer wieder zu singen. Dies zeugt nicht von der Einfallslosigkeit des Kantors, sondern von dessen Weisheit. Kleine Kinder spüren noch den Segen dieser Wiederholung, und deshalb verlangen sie allabendlich nach demselben Schlaflied.

Es bereitet mir Sorgen, daß ich immer häufiger Kantoren und Pfarrern begegne, die jeden Bezug zu den Chorälen unseres Gesangbuches verloren haben. Neulich sprach ein Superintendent sogar abfällig von den „alten Kamellen". Deshalb wird leider längst nicht mehr in allen evangelischen Gemeinden so viel gesungen, wie in unserer Gemeinde. Bitte bewahren Sie sich und unseren Kindern diesen Schatz an Chorälen! Diese Choräle formulieren auch die Glaubenserfahrung unserer Vorfahren. Wenn wir uns davon abschneiden, dann kappen wir unsere Wurzeln.

Helmut Schmidt hat uns bereits 1999 in seiner Festrede zum Leipziger Bachfest zum Handeln aufgerufen. Diese klugen Worte sollten wir heute erneut hören:

„Angesichts der gegenwärtigen Überflutung unserer Kinder mit Fernsehen und mit Geräusch muß man besorgt sein, daß deren Bahn abschüssig in Stumpfheit führen könnte, in Taubheit für Musik führen könnte. Ohne Musik, das könnte durchaus das Schicksal einer Generation werden, die heute in einem Meer von Geräuschen zu ertrinken droht, oder von ‚Geplärr und Geleier', wie Johann Sebastian Bach das einmal genannt hat, ‚Geplärr und Geleier'. Es sollte, denke ich, um die Bewahrung unserer musikalischen Kultur gehen, oder besser will ich mich ausdrücken, um die immer neue Erschaffung der Musikkultur der jeweiligen Generation. Laßt uns also dafür sorgen, daß in unseren Wohnungen, daß in unseren Schulen gesungen wird, nicht nur in der Kirche, aber auch in der Kirche gesungen wird, Musik gemacht wird, auf daß die nachwachsenden jungen Leute lernen, an der Musik Freude zu haben."

Thomas Fritzsch, thomas.fritzsch@uni-leipzig.de

 

Predigt über Römer 15,4-13, 3. Advent, 17. Dezember 2017

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
ja, das mag etwas gewesen sein, das Georg Philipp Telemann mit der Zusammenstellung seines Gesangbuchs im Sinn hatte: Einen Beitrag zur Einmütigkeit im Lobe Gottes. Menschen verschiedener Herkunft darin miteinander zu verbinden. Bis heute zeichnet sich das noch ab im gemeinsamen Stammteil der Gesangbücher der verschiedenen evangelischen Landeskirchen. Ja, schon ein faszinierender Gedanke in einer Zeit, wo Deutschland aus einzelnen Fürstentümern bestand und aus freien Städten, als die Landkarte wie ein Flickenteppich aussah und man mit wesentlich mehr unterschiedlichen Gesetzeslagen umzugehen hatte als heute. Das war schon etwas Besonderes, sich in dieser Weise über kulturell und geschichtlich Gewordenes zwar nicht hinwegzusetzen, aber es als nachrangig zu erklären und eines hoch zu halten: Die Verbundenheit im gemeinsamen Lobe Gottes, in dem man sich auch im fremden Lande zuhause fühlen kann.

Das Lob Gottes als das, was uns Menschen in all unserer Verschiedenheit verbindet: Das findet sich häufig in den Schriften der Bibel, vor allem in denen, die sich an Gemeinden wenden, in denen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Herkunftsreligionen zusammenlebten und nicht selten auch zusammenstießen. Wo sich unterschiedliche Prägungen und Herkunft immer wieder dazwischengeschoben haben. Wo es vor allem auch in den Großstädten schon ähnliche Probleme gab wie heute und sich zeigte: Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen will gestaltet werden, es funktioniert nicht einfach so. Und: Sie müssen es lernen, es ist ein Lernprozess mitunter über Generationen hinweg, dass es halbwegs klappt. Unser heutiger Predigttext wendet sich an die Gemeinde in rom, in der das nicht anders war, obwohl sie immer Gefahr schwebte. Dass der Kaiser und seine Schergen sie jederzeit gern beseitigt hätte, hat keineswegs von selbst zum Zusammenhalt der Betroffenen geführt. Die einen waren als Juden erzogen und befolgten die Gesetze der hebräischen Bibel, bevor sie Christen wurden, die anderen kamen aus dem heidnischen Umfeld der griechisch-römischen Welt zum Glauben an Christus. Es gab antijüdische Ressentiments wie auch Kritik am eigentlich gar nicht abgelegten Barbarentum, was auch immer, offensichtlich ziemlich heftige Zusammenstöße. Diese unterschiedlichen Gruppen in der Gemeinde ruft Paulus zur Einmütigkeit:

Was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre. Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht (Psalm 18,50): „Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen." Und wiederum heißt es (5.Mose 32,43): „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!" Und wiederum (Psalm 117,1): „Lobet den Herrn, alle Heiden, und preist ihn, alle Völker!" Und wiederum spricht Jesaja (Jesaja 11,10): „Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen." Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes. (Römer, 15,4-13)

Ja, liebe Gemeinde, wie viel Einmütigkeit muss es denn nun sein? Wie viel Auseinandersetzung verträgt eine Gemeinschaft? Und auf der anderen Seite: Wie viel Streit muss auf der anderen Seite auch sein, um Fragen und Probleme angehen zu können, um nicht zu versacken? Was bedarf des Ringens, der Auseinandersetzung, um genau das zu vermeiden, was jede Gemeinschaft über kurz über lang sterben, eingehen lässt: Gleichgültigkeit. Schon darüber lässt sich trefflich streiten - und wird es ja auch im Moment, im Leipziger Stadtrat, im Bundestag, in unserer Landeskirche und überhaupt. Der Aufruf des Paulus zur Besonnenheit mag man dabei im Moment erst mal besonders schätzen. Denn wo es für den einen oder anderen ein probates politisches Mittel ist, Konflikte ordentlich anzuheizen und Spaltungen zu vertiefen wie es die einseitige Entscheidung von Präsident Trump zeigt, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen - was nun allem anderen dient als der Einmütigkeit oder der ohnehin schon schwer zu mobilisierenden Bereitschaft, miteinander irgendwann doch noch zu friedlichen Lösungen zu kommen. Man kann da nur hoffen und beten, dass sich besonnene Kräfte auf allen Seiten durchsetzen und dass denen, die überreagieren, von eben selbigen ganz klar die Grenzen aufgezeigt werden und auch bei uns Klartext geredet wird: Wer israelische Flaggen oder auch jede andere verbrennt, verbrennt nicht nur seinen eigenen Anstand, sondern auch die Grundwerte unseres Grundgesetzes. Und er ebnet ggf. den Weg dafür mit, dass mit Menschen dasselbe geschehen kann. In dieser Lust am Zündeln bildet sich m. E. aber nur im Großen ab, was sich im Kleinen jeden Tag beobachten lässt. Wie steht es da um unser Diskussionsverhalten? Was kann man da in Diskussionsforen im Internet finden - das ist LVZ-online noch harmlos, wo sich Leute unter Synonym wie „Sgladschglei" oder „Merbitzer Jung" gegenseitig bepöbeln und beleidigen - wobei man das von den Redakteuren Gelöschte ja noch nicht mal zu lesen bekommt. Ich will hier nicht den Niedergang der gesamten Diskussionskultur in unserem Land und der Welt überhaupt beschwören - aber haben wir und lehren wir Kinder und Jugendliche noch in ausreichendem Maße, wie man richtig streitet bzw. wie man richtig argumentiert und debattiert? Im Umfeld solcher Kommentar-, Like- und Shitstorm-Kultur (oder besser Unkultur) aufzuwachsen, das macht etwas mit Jugendlichen - und nicht nur mit ihnen. Wie schnell passiert einem das, dass sich einem in der Diskussion die eigenen Befindlichkeiten dazwischenschieben und jedes Gespräch über banalste Dinge auf die grundsätzliche Schiene abzudriften droht, wo sich über nichts und wieder nichts in die Haare kriegt. Die anstehenden Weihnachtstage mit viel zu viel ungewohntem familiärem Aufeinander und krampfhaften Bemühtsein um Harmonie sind dazu ja immer die beste Gelegenheit. Auch von daher mag einem eine Woche vor Weihnachten dieser Aufruf zur Einmütigkeit des Paulus besonders ansprechen, vor allem seine Bitte, dass unser Gott der Geduld und des Trostes uns selbst, unserer Gemeinde und unserer Welt Kraft geben möge, an einem Strang ziehen zu können, was das Grundsätzliche betrifft: das Leben des Menschen als Mensch, der Gott in Jesus Christus ja selbst wird.

Ja, diese Einmütigkeit möge uns geschenkt sein, wie sehnen wir uns danach, seit Jahrtausenden über Jahrtausenden. Aber es steht eben Einmütigkeit da - und nicht Einstimmigkeit, die wir damit leider gern auch verwechseln. Aber die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kulturen und Herkünften in der Gemeinde in Rom wie letztlich auch bei uns werden von Paulus benannt und als berechtigt stehen gelassen. Es geht ihm um etwas anderes, etwas höchst Anspruchsvolles und Aktives. Wenn wir uns Vers 7 im griechischen Originaltext anschauen, dann steht da nicht nur etwas von „annehmen", sondern von „aufnehmen": den anderen nicht nur annehmen, sondern bei sich aufnehmen. So wie Christus uns alle bei sich aufgenommen hat. Und das zur Ehre Gottes. Ja, aber Menschen bei sich aufnehmen, wirklich aufnehmen? Wie ist das, wie können wir das? Jeden? Alle? Nein, doch sicher nicht, auch bei bestem Willen merken wir, wie schwer es ist, die, die wir aufnehmen bei uns als Geflüchtete, als Vertriebene, als neu Hinzugekommene, selbst wenn sie nur aus der nächstliegenden Stadt hergezogen sein mögen - sie wirklich aufnehmen zu können, das ist eine Riesenarbeit, das merkt jeder, der es auf persönlicher Ebene schon versucht hat, vor welche Herausforderungen einen die unterschiedliche Herkunft und Mentalität stellt. Aber: Zu der persönlichen Begegnung muss es erst einmal überhaupt kommen, von der Paulus hier ausgeht. Und selbst wenn das möglich wird: Wie kann ich denn jemanden annehmen, der z.B. offen sagt, dass er Juden hasst - ob er nun vorgibt, ach so gläubiger Muslim zu sein? Wie soll ich jemanden annehmen, der als wohlbestallter Professor der Juristerei und damit Staatsdiener von einem weißen Europa träumt? Wo gibt es da eine Ebene, auf der man sich irgendwie treffen kann, oder zumindest irgendwie annähern? Muss ich das mit allen, gibt es das nicht auch, es ganz einfach abzulehnen, mit jemandem auch nur zu reden? Muss ich jeden Menschen annehmen? Diese für mich fried-und freudlosen Menschen, die offensichtlich ihre Zeit damit verbringen, die online- Kommentarspalten der LVZ zu füllen, Leute, für die man manchmal nur bitten kann wie Paulus hier für seine Gemeinde, dass der Gott der Hoffnung sie mit Freude und Frieden erfülle, mit innerer Ausgeglichenheit? Na ja, sage ich mir immer, manchmal hilft da wirklich nur das Gebet, wenn ich keinen Anknüpfungspunkt für Gespräch und Begegnung erkennen kann.

Man muss auch nicht bei diesem Extrembeispiel bleiben. Es reicht ja schon bei den Leuten im eigenen familiären oder freundschaftlichen Umfeld, die einen rat- und hilflos zurücklassen, wo man einfach denkt: Ich kann die nicht annehmen. Jedenfalls im Moment nicht. Das überfordert mich, das macht mich fertig. Sprich: Wenn ich mir die Leute in meinem Umfeld nicht ausgesucht habe und schlicht mit ihnen klar kommen muss. Was einen da trösten kann, das heißt bei Paulus hier nicht: „Nun reißt Euch mal ein bisschen zusammen!" oder „Stellt Euch nicht so an." Nein, denn: Es bleibt über dem, was da an Wunden und Gräben unter uns aufgerissen sein mag, das Lob Gottes. Nirgends wird so oft wie hier in der Bibel Gott als „Gott der Geduld" bezeichnet. Durch Geduld und den Trost der Schrift werden wir Hoffnung haben. Auch darauf, dass es einen Weg geben mag zur Annahme desjenigen, mit dem uns nichts, aber auch gar nichts verbindet. Was größer ist als unser Vermögen, unsere Fähigkeit zur Rücksichtnahme oder erst recht unserer Nachsicht, das ist der Gott der Geduld und des Trostes. Er steht uns bei - und das ist hier bei Paulus der einzig einende Faktor. Nicht meine Maßnahmen, meine Ideen, die von mir vorgeschlagenen oder festgesetzten Regularien, erst recht keine Regeln zur Vereinheitlichung unseres Lebens, eine von wo auch immer her zitierte Leitkultur „deutscher Werte" oder sonst etwas vermag das. Nein, es ist nach Paulus einzig und allein das Lob Gottes, das einmütige und nicht einstimmige Lob, das über all dem steht, was wir noch nicht zu überwinden wissen. Es ist tröstlich, dass es nach ihm eben Höheres gibt als unser Versagen und unsere Unfähigkeit im Miteinander der Verschiedenen und in unserer Abneigung dagegen. Gott pflanzt immer wieder von Neuem die Hoffnung in uns, dass es dabei nicht bleiben muss. Vielleicht hat es Georg Philipp Telemann besonders geahnt und gehofft, dass er geguckt hat: Na, was spricht denn wohl den meisten Menschen an all den verschiedenen Orten aus dem Herzen bzw. in das Herz hinein? Kann ich ihnen helfen, eine Sprache der Einmütigkeit zu finden? „Nun lasst uns gehen und treten mit Singen und mit Beten, zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft gegeben". Er empfiehlt mit seiner Auswahl dieses Chorals für sein Gesangbuch letztlich nichts anderes als Paulus seinerzeit: Bleibt im Gotteslob miteinander verbunden, Ihr lieben verschiedenen Menschen über Zeiten und Orte hinweg!

Und gerade wenn das so ist, dass man das im Blick behält, wenn das die treibende Kraft unseres Zusammenbleibens ist, dann wird auch vernünftiger Streit und Auseinandersetzung möglich. Dann kann auch Klartext gesprochen werden, so wie es etwa Johannes den Täufer getan hat, der eine wichtige Figur für diesen 3. Adventssonntag ist, wenn er einzelne Stände seiner Gesellschaft kritisiert, ja angreift mit Worten wie „Otterngezücht und Schlangenbrut" usw. - alles nicht besonders freundlich, aber klar und aufrüttelnd, so wie in unserem heutigen Evangelium, wo Jesus seine Jünger fragt: Was habt ihr denn erwartet in der Wüste - einen mit weichen Kleidern etwa? Nein, die sind in den Palästen, die sind da, wo es nicht kalt und hart und lebensfeindlich ist. Harte Kleider tragen, die Dinge beim Namen zu nennen wie Johannes - das ist der prophetische Auftrag, den wir als Christen eben auch haben. Dass wir uns vom Evangelium her uns einmischen an der Stelle, wo wir wahrnehmen, dass Menschen seinen Grundsätzen zuwider Leid und Ungerechtigkeit widerfährt. Von dort her allerdings - und nur von dort her.

Unsere Vielstimmigkeit ist bei aller Einmütigkeit vorausgesetzt und auch gefragt. Paulus verordnet seinen Gemeinden und auch uns keine Einheitssoße. Jeglicher Gedanke von Gleichschaltung oder Vereinheitlichung ist kein christlicher Gedanke, er ist aus dem Evangelium nicht abzuleiten. Und jeglicher Versuch, menschliche Gemeinschaft danach zu formen, ist bislang in der Katastrophe geendet bzw. hat irgendwann seinen Niedergang erlebt. So gilt es, dass wir uns unsere Fähigkeit zur Annahme anderer von Gott stärken lassen. Und dass jeder bei sich den dafür nötigen Arbeitsprozess in Gang setzen möge, immer wieder. Mit der Hoffnung darauf, zu leben, dass es uns dem Ziel näher bringen möge - das heißt, adventlich leben. Darin nicht nachzulassen bitten wir Gott in dieser Woche bis zum Weihnachtsfest: Dass er, der Gott der Geduld uns dazu mit Geist beschenke und mit vielstimmigen einmütigem Gotteslob.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org