Motette am 4. März 2023

Motette am 4. März 2023, Jesus nahm zu sich die Zwölfe, BWV 22   1. Arioso T B e Coro Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo Tenor Jesus nahm zu sich die Zwölfe und sprach: Bass Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist von des Menschen Sohn. Chor Sie aber vernahmen der keines und wussten nicht, was das gesaget war.   2. Aria A Oboe solo, Continuo Mein Jesu, ziehe mich nach dir, Ich bin bereit, ich will von hier Und nach Jerusalem zu deinen Leiden gehn. Wohl mir, wenn ich die Wichtigkeit Von dieser Leid- und Sterbenszeit Zu meinem Troste kann durchgehends wohl verstehn!   3. Recitativo B Violino I/II, Viola, Continuo Mein Jesu, ziehe mich, so werd ich laufen, Denn Fleisch und Blut verstehet ganz und gar, Nebst deinen Jüngern nicht, was das gesaget war. Es sehnt sich nach der Welt und nach dem größten Haufen; Sie wollen beiderseits, wenn du verkläret bist, Zwar eine feste Burg auf Tabors Berge bauen; Hingegen Golgatha, so voller Leiden ist, In deiner Niedrigkeit mit keinem Auge schauen. Ach! kreuzige bei mir in der verderbten Brust Zuvörderst diese Welt und die verbotne Lust, So werd ich, was du sagst, vollkommen wohl verstehen Und nach Jerusalem mit tausend Freuden gehen.   4. Aria T Violino I/II, Viola, Continuo Mein alles in allem, mein ewiges Gut, Verbessre das Herze, verändre den Mut; Schlag alles darnieder, Was dieser Entsagung des Fleisches zuwider! Doch wenn ich nun geistlich ertötet da bin, So ziehe mich nach dir in Friede dahin!   5. Choral Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo Ertöt uns durch dein Güte, Erweck uns durch dein Gnad; Den alten Menschen kränke, Dass der neu' leben mag Wohl hie auf dieser Erden, Den Sinn und all Begehren Und G'danken hab'n zu dir. ________________________________________ Besetzung Soli: A T B, Coro: S A T B, Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo Entstehungszeit 7. Februar 1723 Text unbekannter Dichter; 1: Lukas 18, 31 und 34; 5: Elisabeth Kreuzinger 1524 Anlass Estomihi   Liebe Gemeinde, wer hat sie sich nicht schon mal herbeigewünscht: den starken Mann, der’s richten kann. Oder die starke Frau. Jemand, der in der Lage ist, aufzuräumen. Der schafft, was alle wollen: Freiheit. Sicherheit. Frieden. Recht und Gerechtigkeit. Je chaotischer und verfahrener die Situation ist, desto größer ist die Sehnsucht nach diesen starken Männern und Frauen. Da ist man dann auch gerne bereit, sie ein bisschen größer und besser zu machen als sie sind. Und ihnen mehr zuzutrauen, als ein Mensch eigentlich leisten kann. Bei den Jüngern, die mit Jesus unterwegs gewesen sind, war es auch so. Auf ihm ruhte alle Hoffnung: Das Reich Gottes ist nahe, er wird es durchsetzen. Und für einen Moment, bei der Verklärung auf dem Berg Tabor, durften sie ihn ja auch als die Lichtgestalt sehen, als die sie ihn sehen wollten. Diesen Moment hätten sie gerne festgehalten, da hätten sie gerne Hütten gebaut. In diesem Moment war zwischen Himmel und Erde alles klar. Jesus aber distanziert sich wie auch an anderen Stellen von dem Versuch, ihn als Lichtgestalt festzulegen. Was wir in der Lesung gehört haben und im ersten Teil von Bachs Kantate hören werden – übrigens eine seiner Bewerbungskantaten für das Thomaskantorat - hat mit einer Lichtgestalt bzw. dem starken Mann nichts mehr zu tun. Jesus kündigt an, dass er in Jerusalem leiden und sterben wird. Nahezu alles steht ihm dort bevor, was menschliche Niedertracht sich auszudenken weiß: Spott und Misshandlung. Man wird ihn anspucken, schlagen, demütigen und umbringen. All dem wird er sich aussetzen. Aller Schmerz, der innerlich und äußerlich mit diesen Erfahrungen verbunden ist, ist in den musikalischen Motiven des ersten Arioso von Tenor und Bass zu hören. Und die Jünger: sie hören zwar – aber verstehen nichts. Sie sind auf einen glänzenden Erfolg der Sache Jesu eingestellt, dem nichts mehr im Wege steht. Im Chor der Jünger dominiert die Leichtigkeit. Aber es ist auch etwas von der oberflächlichen Geschäftigkeit derer zu spüren, die alles Schwere und Sperrige wie Gedanken an Leid, Endlichkeit und Tod gerne außen vor lassen. Die nichts davon hören möchten. Jetzt wird gelebt und es wird das Beste draus gemacht! Da ist man in zahlreicher Gesellschaft. Im dritten Satz der Kantate, im Bassrezitativ, wird diese Reaktion als zutiefst menschliche Reaktion ernstgenommen und reflektiert: „Fleisch und Blut verstehet ganz und gar, nebst deinen Jüngern nicht, was das gesaget war. Es sehnt sich nach der Welt und nach dem größten Haufen.“ Das mit dem Kreuz Jesu, das will und will uns nicht recht schmecken. Viele haben sehr daran zu kauen und können es nicht schlucken, Christen wie Nichtchristen: Warum dieser Weg Jesu, was soll das mit diesem grausamen Tod am Kreuz? Was für ein Gott ist das, der das braucht? Müssen wir davon wirklich noch reden, geht es nicht auch anders? In solchen Fragen spiegelt sich wider, was wir gerne aus unserem Leben verdrängen wollen und wofür wir nicht zuletzt auf die Kraft der starken Männer und Frauen setzen: Mit dem Gedanken, dass das Leid in der Welt ist und dass zum Menschsein notwendigerweise das Leiden an unserer endlichen Existenz gehört, damit werden wir gedanklich kaum fertig. Wir brauchen es noch nicht mal selbst zu erleben, wir brauchen sie ja nur zu sehen, diese Bilder aus den Erdbebengebieten in der Türkei, in Syrien: Wo nichts mehr übrig oder alles durcheinander ist. Wo Menschen ihre letzten Habseligkeiten aus dem Schlamm ziehen: das ist schon eine schwere Anfechtung. Aber genau in diesem Gefühl liegt schon die Antwort darauf, warum Jesus sich auf den Weg nach Jerusalem macht. Nicht Gott braucht das Kreuz Jesu. Wir brauchen es. Wir brauchen es, um im Schlamm des Elends und unserer Anfechtung nicht stecken zu bleiben. Wir brauchen es, weil nur an diesem Kreuz deutlich wird, dass an allen Orten des Elends Gott schon da ist. Dass er trotz allem, was dagegen sprechen zu scheint, an dieser Welt nicht unbeteiligt bleibt. Diese Welt, die die Tendenz hat, sich absolut zu gebärden, brutal und grausam zu sein, ist sich nicht selbst überlassen. Ohne Karfreitag, ohne Gottes tiefsten Erweis seiner Solidarität und Liebe zu den Menschen, die sich im Mit-Erleiden allen Elends erweist, wäre sie kaum zum Aushalten. Und doch bleibt das Kreuz für uns sperrig. Und so bleibt auch in der Kantate alles darauf gerichtet, Gott zu bitten, diesem Kreuz nicht auszuweichen und immer mehr und immer tiefer zu verstehen, was es für unser Leben bedeutet. Alle Texte in dieser Kantate, die auf die Leidensankündigung Jesu folgen, sind Gebete. Es sind Bitten darum, auf diesem Weg mitgezogen zu werden. Und dabei immer mehr in das einstimmen zu können, was in der Altarie so formuliert wird: „Wohl mir, wenn ich die Wichtigkeit von dieser Leid-und Sterbenszeit zu meinem Troste kann durchgehends wohl verstehen.“ Amen. Gebet Unser Gott und Vater, wir kommen vor Dich mit all dem Guten, was wir in dieser Woche erleben durften und für das wir Dir danken. Wir bringen aber auch unsere Last mit und das, was uns bedrückt: Wir bitten Dich um Kraft und Geleit, mit allem Schweren in unserem Leben umgehen zu können. Wir bitten Dich für alle, die nah und fern unter dem Kreuz leiden haben, das sie zu tragen haben. Wir bitten Dich besonders für die, die in Ungewissheit über ihre Zukunft leben. Gib ihnen die Gewissheit, dass Du schon an ihrer Seite bist. Im Vertrauen auf Deine Barmherzigkeit beten wir mit den Worten Jesu: Vaterunser…   Britta Taddiken Pfarrerin an der Thomaskirche taddiken@thomaskirche.org Motette am 4. März 2023, Jesus nahm zu sich die Zwölfe, BWV 22   1. Arioso T B e Coro Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo Tenor Jesus nahm zu sich die Zwölfe und sprach: Bass Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist von des Menschen Sohn. Chor Sie aber vernahmen der keines und wussten nicht, was das gesaget war.   2. Aria A Oboe solo, Continuo Mein Jesu, ziehe mich nach dir, Ich bin bereit, ich will von hier Und nach Jerusalem zu deinen Leiden gehn. Wohl mir, wenn ich die Wichtigkeit Von dieser Leid- und Sterbenszeit Zu meinem Troste kann durchgehends wohl verstehn!   3. Recitativo B Violino I/II, Viola, Continuo Mein Jesu, ziehe mich, so werd ich laufen, Denn Fleisch und Blut verstehet ganz und gar, Nebst deinen Jüngern nicht, was das gesaget war. Es sehnt sich nach der Welt und nach dem größten Haufen; Sie wollen beiderseits, wenn du verkläret bist, Zwar eine feste Burg auf Tabors Berge bauen; Hingegen Golgatha, so voller Leiden ist, In deiner Niedrigkeit mit keinem Auge schauen. Ach! kreuzige bei mir in der verderbten Brust Zuvörderst diese Welt und die verbotne Lust, So werd ich, was du sagst, vollkommen wohl verstehen Und nach Jerusalem mit tausend Freuden gehen.   4. Aria T Violino I/II, Viola, Continuo Mein alles in allem, mein ewiges Gut, Verbessre das Herze, verändre den Mut; Schlag alles darnieder, Was dieser Entsagung des Fleisches zuwider! Doch wenn ich nun geistlich ertötet da bin, So ziehe mich nach dir in Friede dahin!   5. Choral Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo Ertöt uns durch dein Güte, Erweck uns durch dein Gnad; Den alten Menschen kränke, Dass der neu' leben mag Wohl hie auf dieser Erden, Den Sinn und all Begehren Und G'danken hab'n zu dir. ________________________________________ Besetzung Soli: A T B, Coro: S A T B, Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo Entstehungszeit 7. Februar 1723 Text unbekannter Dichter; 1: Lukas 18, 31 und 34; 5: Elisabeth Kreuzinger 1524 Anlass Estomihi   Liebe Gemeinde, wer hat sie sich nicht schon mal herbeigewünscht: den starken Mann, der’s richten kann. Oder die starke Frau. Jemand, der in der Lage ist, aufzuräumen. Der schafft, was alle wollen: Freiheit. Sicherheit. Frieden. Recht und Gerechtigkeit. Je chaotischer und verfahrener die Situation ist, desto größer ist die Sehnsucht nach diesen starken Männern und Frauen. Da ist man dann auch gerne bereit, sie ein bisschen größer und besser zu machen als sie sind. Und ihnen mehr zuzutrauen, als ein Mensch eigentlich leisten kann. Bei den Jüngern, die mit Jesus unterwegs gewesen sind, war es auch so. Auf ihm ruhte alle Hoffnung: Das Reich Gottes ist nahe, er wird es durchsetzen. Und für einen Moment, bei der Verklärung auf dem Berg Tabor, durften sie ihn ja auch als die Lichtgestalt sehen, als die sie ihn sehen wollten. Diesen Moment hätten sie gerne festgehalten, da hätten sie gerne Hütten gebaut. In diesem Moment war zwischen Himmel und Erde alles klar. Jesus aber distanziert sich wie auch an anderen Stellen von dem Versuch, ihn als Lichtgestalt festzulegen. Was wir in der Lesung gehört haben und im ersten Teil von Bachs Kantate hören werden – übrigens eine seiner Bewerbungskantaten für das Thomaskantorat - hat mit einer Lichtgestalt bzw. dem starken Mann nichts mehr zu tun. Jesus kündigt an, dass er in Jerusalem leiden und sterben wird. Nahezu alles steht ihm dort bevor, was menschliche Niedertracht sich auszudenken weiß: Spott und Misshandlung. Man wird ihn anspucken, schlagen, demütigen und umbringen. All dem wird er sich aussetzen. Aller Schmerz, der innerlich und äußerlich mit diesen Erfahrungen verbunden ist, ist in den musikalischen Motiven des ersten Arioso von Tenor und Bass zu hören. Und die Jünger: sie hören zwar – aber verstehen nichts. Sie sind auf einen glänzenden Erfolg der Sache Jesu eingestellt, dem nichts mehr im Wege steht. Im Chor der Jünger dominiert die Leichtigkeit. Aber es ist auch etwas von der oberflächlichen Geschäftigkeit derer zu spüren, die alles Schwere und Sperrige wie Gedanken an Leid, Endlichkeit und Tod gerne außen vor lassen. Die nichts davon hören möchten. Jetzt wird gelebt und es wird das Beste draus gemacht! Da ist man in zahlreicher Gesellschaft. Im dritten Satz der Kantate, im Bassrezitativ, wird diese Reaktion als zutiefst menschliche Reaktion ernstgenommen und reflektiert: „Fleisch und Blut verstehet ganz und gar, nebst deinen Jüngern nicht, was das gesaget war. Es sehnt sich nach der Welt und nach dem größten Haufen.“ Das mit dem Kreuz Jesu, das will und will uns nicht recht schmecken. Viele haben sehr daran zu kauen und können es nicht schlucken, Christen wie Nichtchristen: Warum dieser Weg Jesu, was soll das mit diesem grausamen Tod am Kreuz? Was für ein Gott ist das, der das braucht? Müssen wir davon wirklich noch reden, geht es nicht auch anders? In solchen Fragen spiegelt sich wider, was wir gerne aus unserem Leben verdrängen wollen und wofür wir nicht zuletzt auf die Kraft der starken Männer und Frauen setzen: Mit dem Gedanken, dass das Leid in der Welt ist und dass zum Menschsein notwendigerweise das Leiden an unserer endlichen Existenz gehört, damit werden wir gedanklich kaum fertig. Wir brauchen es noch nicht mal selbst zu erleben, wir brauchen sie ja nur zu sehen, diese Bilder aus den Erdbebengebieten in der Türkei, in Syrien: Wo nichts mehr übrig oder alles durcheinander ist. Wo Menschen ihre letzten Habseligkeiten aus dem Schlamm ziehen: das ist schon eine schwere Anfechtung. Aber genau in diesem Gefühl liegt schon die Antwort darauf, warum Jesus sich auf den Weg nach Jerusalem macht. Nicht Gott braucht das Kreuz Jesu. Wir brauchen es. Wir brauchen es, um im Schlamm des Elends und unserer Anfechtung nicht stecken zu bleiben. Wir brauchen es, weil nur an diesem Kreuz deutlich wird, dass an allen Orten des Elends Gott schon da ist. Dass er trotz allem, was dagegen sprechen zu scheint, an dieser Welt nicht unbeteiligt bleibt. Diese Welt, die die Tendenz hat, sich absolut zu gebärden, brutal und grausam zu sein, ist sich nicht selbst überlassen. Ohne Karfreitag, ohne Gottes tiefsten Erweis seiner Solidarität und Liebe zu den Menschen, die sich im Mit-Erleiden allen Elends erweist, wäre sie kaum zum Aushalten. Und doch bleibt das Kreuz für uns sperrig. Und so bleibt auch in der Kantate alles darauf gerichtet, Gott zu bitten, diesem Kreuz nicht auszuweichen und immer mehr und immer tiefer zu verstehen, was es für unser Leben bedeutet. Alle Texte in dieser Kantate, die auf die Leidensankündigung Jesu folgen, sind Gebete. Es sind Bitten darum, auf diesem Weg mitgezogen zu werden. Und dabei immer mehr in das einstimmen zu können, was in der Altarie so formuliert wird: „Wohl mir, wenn ich die Wichtigkeit von dieser Leid-und Sterbenszeit zu meinem Troste kann durchgehends wohl verstehen.“ Amen. Gebet Unser Gott und Vater, wir kommen vor Dich mit all dem Guten, was wir in dieser Woche erleben durften und für das wir Dir danken. Wir bringen aber auch unsere Last mit und das, was uns bedrückt: Wir bitten Dich um Kraft und Geleit, mit allem Schweren in unserem Leben umgehen zu können. Wir bitten Dich für alle, die nah und fern unter dem Kreuz leiden haben, das sie zu tragen haben. Wir bitten Dich besonders für die, die in Ungewissheit über ihre Zukunft leben. Gib ihnen die Gewissheit, dass Du schon an ihrer Seite bist. Im Vertrauen auf Deine Barmherzigkeit beten wir mit den Worten Jesu: Vaterunser…   Britta Taddiken Pfarrerin an der Thomaskirche taddiken@thomaskirche.org                    

  • 04.03.2023
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 4. März 2023, Jesus nahm zu sich die Zwölfe, BWV 22

 

 

1. Arioso T B e Coro
Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo

Tenor
Jesus nahm zu sich die Zwölfe und sprach:
Bass
Sehet, wir gehn hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist von des Menschen Sohn.
Chor
Sie aber vernahmen der keines und wussten nicht, was das gesaget war.

 

 

2. Aria A
Oboe solo, Continuo

Mein Jesu, ziehe mich nach dir,
Ich bin bereit, ich will von hier
Und nach Jerusalem zu deinen Leiden gehn.
    Wohl mir, wenn ich die Wichtigkeit
    Von dieser Leid- und Sterbenszeit
    Zu meinem Troste kann durchgehends wohl verstehn!

 

 

3. Recitativo B
Violino I/II, Viola, Continuo

Mein Jesu, ziehe mich, so werd ich laufen,
Denn Fleisch und Blut verstehet ganz und gar,
Nebst deinen Jüngern nicht, was das gesaget war.
Es sehnt sich nach der Welt und nach dem größten Haufen;
Sie wollen beiderseits, wenn du verkläret bist,
Zwar eine feste Burg auf Tabors Berge bauen;
Hingegen Golgatha, so voller Leiden ist,
In deiner Niedrigkeit mit keinem Auge schauen.
Ach! kreuzige bei mir in der verderbten Brust
Zuvörderst diese Welt und die verbotne Lust,
So werd ich, was du sagst, vollkommen wohl verstehen
Und nach Jerusalem mit tausend Freuden gehen.

 

 

4. Aria T
Violino I/II, Viola, Continuo

Mein alles in allem, mein ewiges Gut,
Verbessre das Herze, verändre den Mut;
Schlag alles darnieder,
Was dieser Entsagung des Fleisches zuwider!
Doch wenn ich nun geistlich ertötet da bin,
So ziehe mich nach dir in Friede dahin!

 

 

5. Choral
Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo

Ertöt uns durch dein Güte,
Erweck uns durch dein Gnad;
Den alten Menschen kränke,
Dass der neu' leben mag
Wohl hie auf dieser Erden,
Den Sinn und all Begehren
Und G'danken hab'n zu dir.


Besetzung

Soli: A T B, Coro: S A T B, Oboe, Violino I/II, Viola, Continuo

Entstehungszeit

7. Februar 1723

Text

unbekannter Dichter; 1: Lukas 18, 31 und 34; 5: Elisabeth Kreuzinger 1524

Anlass

Estomihi

 

Liebe Gemeinde,

wer hat sie sich nicht schon mal herbeigewünscht: den starken Mann, der’s richten kann. Oder die starke Frau. Jemand, der in der Lage ist, aufzuräumen. Der schafft, was alle wollen: Freiheit. Sicherheit. Frieden. Recht und Gerechtigkeit. Je chaotischer und verfahrener die Situation ist, desto größer ist die Sehnsucht nach diesen starken Männern und Frauen. Da ist man dann auch gerne bereit, sie ein bisschen größer und besser zu machen als sie sind. Und ihnen mehr zuzutrauen, als ein Mensch eigentlich leisten kann.

Bei den Jüngern, die mit Jesus unterwegs gewesen sind, war es auch so. Auf ihm ruhte alle Hoffnung: Das Reich Gottes ist nahe, er wird es durchsetzen. Und für einen Moment, bei der Verklärung auf dem Berg Tabor, durften sie ihn ja auch als die Lichtgestalt sehen, als die sie ihn sehen wollten. Diesen Moment hätten sie gerne festgehalten, da hätten sie gerne Hütten gebaut. In diesem Moment war zwischen Himmel und Erde alles klar. Jesus aber distanziert sich wie auch an anderen Stellen von dem Versuch, ihn als Lichtgestalt festzulegen. Was wir in der Lesung gehört haben und im ersten Teil von Bachs Kantate hören werden – übrigens eine seiner Bewerbungskantaten für das Thomaskantorat -  hat mit einer Lichtgestalt bzw. dem starken Mann nichts mehr zu tun. Jesus kündigt an, dass er in Jerusalem leiden und sterben wird. Nahezu alles steht ihm dort bevor, was menschliche Niedertracht sich auszudenken weiß: Spott und Misshandlung. Man wird ihn anspucken, schlagen, demütigen und umbringen. All dem wird er sich aussetzen. Aller Schmerz, der innerlich und äußerlich mit diesen Erfahrungen verbunden ist, ist in den musikalischen Motiven des ersten Arioso von Tenor und Bass zu hören.

Und die Jünger: sie hören zwar – aber verstehen nichts. Sie sind auf einen glänzenden Erfolg der Sache Jesu eingestellt, dem nichts mehr im Wege steht. Im Chor der Jünger dominiert die Leichtigkeit. Aber es ist auch etwas von der oberflächlichen Geschäftigkeit derer zu spüren, die alles Schwere und Sperrige wie Gedanken an Leid, Endlichkeit und Tod gerne außen vor lassen. Die nichts davon hören möchten. Jetzt wird gelebt und es wird das Beste draus gemacht! Da ist man in zahlreicher Gesellschaft. Im dritten Satz der Kantate, im Bassrezitativ, wird diese Reaktion als zutiefst menschliche Reaktion ernstgenommen und reflektiert: „Fleisch und Blut verstehet ganz und gar, nebst deinen Jüngern nicht, was das gesaget war. Es sehnt sich nach der Welt und nach dem größten Haufen.“ Das mit dem Kreuz Jesu, das will und will uns nicht recht schmecken. Viele haben sehr daran zu kauen und können es nicht schlucken, Christen wie Nichtchristen: Warum dieser Weg Jesu, was soll das mit diesem grausamen Tod am Kreuz?  Was für ein Gott ist das, der das braucht? Müssen wir davon wirklich noch reden, geht es nicht auch anders?

In solchen Fragen spiegelt sich wider, was wir gerne aus unserem Leben verdrängen wollen und wofür wir nicht zuletzt auf die Kraft der starken Männer und Frauen setzen: Mit dem Gedanken, dass das Leid in der Welt ist und dass zum Menschsein notwendigerweise das Leiden an unserer endlichen Existenz gehört, damit werden wir gedanklich kaum fertig. Wir brauchen es noch nicht mal selbst zu erleben, wir brauchen sie ja nur zu sehen, diese Bilder aus den Erdbebengebieten in der Türkei, in Syrien: Wo nichts mehr übrig oder alles durcheinander ist. Wo Menschen ihre letzten Habseligkeiten aus dem Schlamm ziehen: das ist schon eine schwere Anfechtung.

Aber genau in diesem Gefühl liegt schon die Antwort darauf, warum Jesus sich auf den Weg nach Jerusalem macht. Nicht Gott braucht das Kreuz Jesu. Wir brauchen es. Wir brauchen es, um im Schlamm des Elends und unserer Anfechtung nicht stecken zu bleiben. Wir brauchen es, weil nur an diesem Kreuz deutlich wird, dass an allen Orten des Elends Gott schon da ist. Dass er trotz allem, was dagegen sprechen zu scheint, an dieser Welt nicht unbeteiligt bleibt. Diese Welt, die die Tendenz hat, sich absolut zu gebärden, brutal und grausam zu sein, ist sich nicht selbst überlassen. Ohne Karfreitag, ohne Gottes tiefsten Erweis seiner Solidarität und Liebe zu den Menschen, die sich im Mit-Erleiden allen Elends erweist, wäre sie kaum zum Aushalten.

Und doch bleibt das Kreuz für uns sperrig. Und so bleibt auch in der Kantate alles darauf gerichtet, Gott zu bitten, diesem Kreuz nicht auszuweichen und immer mehr und immer tiefer zu verstehen, was es für unser Leben bedeutet. Alle Texte in dieser Kantate, die auf die Leidensankündigung Jesu folgen, sind Gebete. Es sind Bitten darum, auf diesem Weg mitgezogen zu werden. Und dabei immer mehr in das einstimmen zu können, was in der Altarie so formuliert wird: „Wohl mir, wenn ich die Wichtigkeit von dieser Leid-und Sterbenszeit zu meinem Troste kann durchgehends wohl verstehen.“ Amen.

Gebet

Unser Gott und Vater, wir kommen vor Dich mit all dem Guten, was wir in dieser Woche erleben durften und für das wir Dir danken. Wir bringen aber auch unsere Last mit und das, was uns bedrückt: Wir bitten Dich um Kraft und Geleit, mit allem Schweren in unserem Leben umgehen zu können. Wir bitten Dich für alle, die nah und fern unter dem Kreuz leiden haben, das sie zu tragen haben. Wir bitten Dich besonders für die, die in Ungewissheit über ihre Zukunft leben. Gib ihnen die Gewissheit, dass Du schon an ihrer Seite bist. Im Vertrauen auf Deine Barmherzigkeit beten wir mit den Worten Jesu: Vaterunser…

 

Britta Taddiken

Pfarrerin an der Thomaskirche

taddiken@thomaskirche.org