Motettenansprache

  • 11.06.2022
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 11. Juni 2022 (Bachfest)

Johann Sebastian Bach, Kantate „Was willst Du Dich betrüben“ (BWV 107)

   
 

 

1. Coro
Flauto traverso I/II, Oboe d'amore I/II, Violino I/II, Viola, Corno da caccia col Soprano, Continuo

Was willst du dich betrüben,
O meine liebe Seel?
Ergib dich, den zu lieben,
Der heißt Immanuel!
Vertraue ihm allein,
Er wird gut alles machen
Und fördern deine Sachen.
Wie dir's wird selig sein!

 

 

2. Recitativo B
Oboe d'amore I/II, Continuo

Denn Gott verlässet keinen,
Der sich auf ihn verlässt.
Er bleibt getreu den Seinen.
Die ihm vertrauen fest.
Läßt sich's an wunderlich,
So lass dir doch nicht grauen!
Mit Freuden wirst du schauen,
Wie Gott wird retten dich.

 

 

3. Aria B
Violino I/II, Viola, Continuo

Auf ihn magst du es wagen
Mit unerschrocknem Mut,
Du wird mit ihm erjagen,
Was dir ist nütz und gut.
Was Gott beschlossen hat,
Das kann niemand hindern
Aus allen Menschenkindern;
Es geht nach seinem Rat.

 

 

4. Aria T
Continuo

Wenn auch gleich aus der Höllen
Der Satan wollte sich
Dir selbst entgegenstellen
Und toben wider dich.
So muss er doch mit Spott
Von seinen Ränken lassen,
Damit er dich will fassen;
Denn dein Werk fördert Gott.

 

 

5. Aria S
Oboe d'amore I/II, Continuo

Es richt's zu seinen Ehren
Und deiner Seligkeit;
Soll's sein, kein Mensch kanns wehren.
Und wärs ihm doch so leid.
Will's denn Gott haben nicht,
So kann's niemand forttreiben.
Es muss zurückebleiben,
Was Gott will, das geschicht.

 

 

6. Aria T
Flauto traverso I/II, Continuo

Darum ich mich ihm ergebe,
Im sei es heimgestellt;
Nach nichts ich sonst mehr strebe
Denn nur was ihm gefällt.
Drauf wart ich und bin still,
Sein Will der ist der beste.
Das glaub ich steif und feste,
Gott mach es, wie er will!

 

 

7. Coro
Flauto I/II e Oboe d'amore I coll' Alto, Oboe d'amore II col Tenore, Violino I/II, Viola, Corno da caccia col Soprano, Continuo

Herr, gib, dass ich dein Ehre
Ja all mein Leben lang
Von Herzensgrund vermehre,
Dir sage Lob und Dank!
O Vater, Sohn und Geist,
Der du aus lauter Gnade
Abwendest Not und Schaden,
Sei immerdar gepreist.


Besetzung

Soli: S T B, Coro: S A T B, Corno da caccia, Flauto traverso I/II, Oboe d'amore I/II, Violino I/II, Viola, Continuo

Entstehungszeit

23. Juli 1724

Text

Johann Heermann 1630

Anlass

7. Sonntag nach Trinitatis

 

Biblischer Bezug: Markus 8,1-9

Zu der Zeit, als wieder eine große Menge da war und sie nichts zu essen hatten, rief Jesus die Jünger zu sich und sprach zu ihnen: 2 Mich jammert das Volk, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen. 3 Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen. 4 Seine Jünger antworteten ihm: Woher nehmen wir Brot hier in der Einöde, dass wir sie sättigen? 5 Und er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr? Sie sprachen: Sieben. 6 Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern. Und er nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, dass sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. 7 Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. 8 Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll. 9 Es waren aber etwa viertausend; und er ließ sie gehen.

Liebe Gemeinde,

„Zu der Zeit, als wieder (mal) eine große Menge da war und sie nichts zu essen hatten, rief Jesus die Jünger zu sich...“ So beginnt die Geschichte von der Speisung der 4000. Johann Sebastian Bach hat sie sage und schreibe viermal als Textbasis für eine Kantate verwendet. Wieder mal ist es so weit. Die Jünger sind offenbar noch damit beschäftigt, die gerade geschehene Speisung der 5000 innerlich zu verarbeiten, so dass sie gar nicht merken: Sie sind schon längst wieder in derselben Situation. Und so ist es diesmal Jesus selbst, der sie anweist: Hier muss gehandelt werden: „Mich jammert das Volk – und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Weg verschmachten.“ Und wieder sind die Jünger überfordert: Es ist unmöglich, niemand kann hier etwas tun. Brot in der Wüste? Die Umstände sprechen genauso dagegen wie die angesichts der Menge begrenzten Kräfte der Jünger. Und man weiß ja schließlich auch: Eine hungernde Menge ist gefährlich. Keine falschen Bewegungen machen, keine falschen Versprechen. Die unübersichtliche Menge konfrontiert die Jünger mit ihrer Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und sie ist auch eine Kränkung, eine Infragestellung ihrer Fähigkeiten und letztlich auch: eine Bedrohung. Ja, Hunger nach Brot oder auch nach Freiheit kann sich in Gewalt entladen, da kann was aus dem Ruder laufen. Gewaltig. Was in einigen afrikanischen Staaten und auch anderswo geschehen wird, wenn die Getreidelieferungen aus der Ukraine ausbleiben werden jetzt im Herbst – man darf gar nicht dran denken und kann nur hoffen: Hoffentlich kann Abhilfe geschaffen werden.

Aber nicht der Hunger ist das eigentliche Problem in dieser Geschichte. Ich denke, Markus erzählt sie deshalb zwei Mal, um auf eines unserer menschlichen Dauerprobleme aufmerksam zu machen: Dass wir wie die Jünger meistens erst mal auf das gucken, was wir nicht haben, was nicht ist und was wir nicht sind - statt auf das, was schon da ist, was wir schon haben und was werden kann. Es ist eine menschliche Unart, an der Inszenierung der Unlösbarkeit eines Problems Lust zu entwickeln – und mehr Energie darauf zu verwenden, als auf die Suche nach der Lösung. Man lamentiert lieber über das Unveränderliche einer Situation als einen ersten Schritt zu machen. Und landet dabei am Ende oft dort, wo sich die überforderten Jünger befinden. Bei der Vermeidung: Ich habe mit dem Problem eigentlich nichts zu tun.

Jesus kehrt diesen Blick um mit der Frage: Was habt ihr? Wie viele Brote habt ihr? Er lässt sie auf ihr Vermögen und ihre Fähigkeiten schauen. Sie müssen gesucht und gefunden werden. Was vorhanden ist, muss offen gelegt werden, eine Inventur der Möglichkeiten ist angesagt. Die Antwort auf die Frage: „Was können wir schon tun?“, lautet bei Jesus immer: Den ersten Schritt. So wird das vorhandene Brot gesammelt und der Menge vorgelegt. Das Potential wird sichtbar und öffentlich gemacht. Wir haben nicht nichts. Offenbar zeitigt dieser erste Schritt bei den Jüngern Erfolg. Denn sie kommen nun offenbar selbst auf die Idee, zu gucken, ob auch noch Fische da sind. „Und sie hatten auch einige Fische.“

Als zweiten Schritt lässt Jesus die Menge auf dem Boden platznehmen. Was den Jüngern die Sicht nach vorne und auf die eigenen Möglichkeiten versperrt hatte, löst sich auf, sie bekommen einen Überblick über die Situation: Die Ausgangslage bleibt, aber sie lähmt nicht mehr. Aus einer unüberschaubaren Masse wird ein benennbare Größe:  4000. Die vorhandenen Gaben sind begrenzt. Zugegeben: die Menge der Brote ist übersichtlich. Aber sichtbar ist eben auch das Potential, darin steckt. Wo man bereit ist, wahrzunehmen: Im Leben fängt man nie bei Null an, beginnt sich eine Perspektive zu entwickeln. Und Freude an den Möglichkeiten, die da sind! Es herauskitzeln zu wollen. Ich glaube, das ist der Grund, warum im Fernsehen diese merkwürdigen Spendengalas so gut funktionieren. Die Lust daran, die Summe wachsen zu sehen, die vorher keiner erahnen kann. Sie will geweckt werden, um der Lust an der Unverbesserlichkeit des Lebens etwas entgegenzusetzen. Wo es hingeht: Das haben wir mit in der Hand. Und dafür bleiben wir verantwortlich – und nicht nur die Umstände. Da ist diese Geschichte so kritisch wie tröstlich zugleich. Sie ist eine Hoffnungsgeschichte gegen die eigene Bankrotterklärung. Sie fordert mit unseren Möglichkeiten und weckt zugleich die Erwartung, dass uns darüber hinaus etwas gegeben wird, womit wir vielleicht noch nicht rechnen. Die Kantate, die wir gleich hören, folgt genau diesem Duktus. „Was willst Du Dich betrüben, O meine liebe Seel?“ Gott wird unsere Sache „fördern“ heißt es im Eingangssatz. Und im Bassrezitativ müssen wir nicht lang warten, dass wir motiviert werden wie die Jünger durch Jesus: „Lässt sich‘s an wunderlich, so lass dir doch nicht grauen! Mit Freuden wirst Du schauen, wie Gott wird retten dich.“ Und so geht es weiter. Die Kantate ist wie der ihr komplett zugrunde liegende Choral eine einzige Predigt, einen „unerschrockenen Mut“ zu bewahren, um es mit der Bass-Arie zu sagen. Hören wir also heute diese alten Worte und diese alte Musik, sie sind ganz aktuell…

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org