Motettenansprache

  • 16.10.2021
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Ansprache

Motette am 16.10.2021, 15 Uhr

 

Liebe Motettengemeinde,

Sie wissen schon, dass diejenigen Motettenbesucherinnen und -besucher, die hinten im Mittelschiff am Gang sitzen, privilegiert sind? Nein, Sie wissen es nicht? Nun, tatsächlich können Sie von jedem Platz in der Thomaskirche gut hören. Das ist ja auch das Wichtigste in einer Motette: die Musik zu hören und dadurch angestoßen, dem Fluss innerer Einkehr zu folgen. In aller Ruhe und mit der ganz eigenen Andacht. Wir hören die Musik und kommen in Gleichklang mit uns selbst und mit Gott. Das zu erleben ist uns in der Motette allen gleichermaßen möglich.

 

Dass jedoch einige von uns hier im Kirchenschiff privilegiert sind, bezieht sich auf das Sehen. Sie, die Sie dort hinten im Mittelschiff sitzen, können, wenn Sie sich nach Süden wenden, das Mendelssohn-Fenster sehen. Das Mendelssohn-Fenster mit seiner ganz eigenen Geschichte und mit ganz dichtem Bezug zu unserer Motette heute. Der  Chor und das Ensemble werden Felix Mendelssohn-Bartholdys großes Chorwerk „Te Deum“ zur Aufführung bringen … und haben eben schon damit begonnen. Mendelssohn, der die Musik Bachs wie kaum eine andere verehrt hat. Und dem wir es durch die Aufführung der Matthäus-Passion mit der Berliner Singakademie 1829 zu verdanken haben, dass Bachs Musik dem Vergessen entrissen wurde.

 

Ich möchte Sie einladen …, einladen zu einem kurzen Mendelssohn-Gang durch unsere Stadt Leipzig, den Sie sich im Anschluss an die Motette oder auch morgen vornehmen können.

- Mit dem Fenster in der Thomaskirche hatte ich schon begonnen. Es sollte, ähnlich wie die flankierenden Fenster der Südseite, in den 1880er Jahren eingesetzt werden. Doch antisemitische Stimmen verhinderten das. Und so mussten über hundert Jahre vergehen, bis 1997 das Mendelssohnfenster seinen Platz erhielt. Die Blutspur, die das Jahrhundert u.a. infolge des Antisemitismus hinterließ, durchzieht im Glasfenster das Notenblatt, das unterhalb von Mendelssohns Brustbild zu sehen ist.

- Verlassen wir nun die Thomaskirche durch das Mendelssohn-Portal, gehen vorbei am Mendelssohn-Denkmal und gehen nun auf unserm Spaziergang in Richtung Gewandhaus, wo Mendelssohn Kapellmeister war. Dann überqueren wir den Ring. Jetzt sind wir nach wenigen Schritten am Mendelssohn-Haus angekommen, dem Museum für die beiden kongenialen Musikgestalten des 19. Jahrhunderts: Fanny Mendelssohn und ihren vier Jahre jüngeren Bruder Felix. Dort erfahren wir, wie die beiden Geschwister im Strom der Musik aufwuchsen, wie sie ohne diesen Quell nicht hätten leben können und wie sehr die beiden die Musik verband. Zeitlebens sprachen Felix und Fanny über ihre Kompositionen. Und während Fannys Werke auf Aufführungen im Berliner Gartenhaus der Familie beschränkt bleiben mussten, wuchs der Musikruhm des Bruders in ganz Europa.

- Wenn wir dann unsere Schritte in Richtung Musikviertel lenken, kommen wir am Gebäude der Sächsischen Akademie der Wissenschaften vorbei – dem Ort, wo seit über 20 Jahren die wissenschaftliche Gesamtedition der Werke Mendelssohns erarbeitet wird. Auch das Werk, das wir heute hören – das „Te Deum“-, ist in diesem Akademieprojekt herausgegeben worden.

- Und weiter geht es, vorbei an der Hochschule für Musik und Theater, die den Namen Felix-Mendelssohn-Bartholdy trägt. Nun stehen wir vor dem Gebäude der Universitätsbibliothek, der Bibliotheca Albertina, an deren Eingang für die gerade eröffnete Ausstellung geworben wird: „Übersetzte Religion“. Wenn wir hinein gehen, stehen wir nach wenigen Schritten im Dunkel des Ausstellungsraums, vor uns in der Vitrine sachte beleuchtet ein aufgeschlagenes Exemplar der Psalmenübersetzung durch Moses Mendelssohn, dem großen jüdischen Gelehrten und Philosophen der Aufklärung, der der Großvater von Fanny und Felix war.

 

Dies wäre mein Vorschlag für einen Spaziergang entlang eines roten theologischen, philosophischen, musikalischen und geschwisterlichen Fadens, der sich durch unsere Stadt zieht.

 

Doch will ich mich nicht wie eine Tourismusvertreterin an Sie wenden. Wir sind jetzt hier in der Thomaskirche in der Motette, einer musikalischen Andacht. Und wir wollen die Musik in uns aufnehmen, um

- sie zu trinken wie das frische Wasser einer Quelle und

- sie uns Anregung und Nahrung sein zu lassen wie ein mit Liebe gebackenes Brot.

„Te Deum laudamus“ - „Dich, Gott loben wir“. Wir hören das Werk in lateinischer Sprache, der uralten Sprache der Liturgie. Zum Glück bietet das Textblatt eine Übersetzung, so dass wir sie nachvollziehen können – die zarten, leisen Töne des Chores und die mächtigen polyphonen Stimmführungen im Forte.

 

Doch, liebe Motettengemeinde, ist es nicht eigentlich so, dass wir noch eine ganz andere Übersetzung für das „Te Deum“ brauchen? Eine Übersetzung in unser Leben und in die Sprache unseres Alltags und in unser Leben:

„Dich, Gott, loben wir.“

Jede und jeder einzelne tut das für sich und in einer ganz individuellen Art und Weise.

 

Lasst uns Gott loben.

Amen.

 

Dr. Almuth Märker

Prädikantin an St. Thomas

Almuth.maerker@web.de