Motettenansprache

  • 14.10.2023
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 14. November 2023

John Rutter (*1945) aus „Requiem“

Out of the deep have I called unto thee, O Lord: Lord, hear my voice. O let thine ears consider well: the voice of my complaint.

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens! (aus Psalm 130)

 

Liebe Motettengemeinde,

als Philipp Goldmann und der Denkmalchor die Werke für diese Motette zusammengestellt haben, konnte niemand ahnen, wie aktuell diese Texte in dieser Woche sein würden. Wir hören gleich ein Requiem von John Rutter mit Worten aus der Bibel und der Tradition der christlichen Liturgie. Ein Requiem, eine Totenmesse, die in der katholischen Liturgie am Tag der Beerdigung abgehalten wird. Wir können nicht anders, als sie heute zu hören im Gedenken an die Menschen in Israel, die auf bestialische Weise von den Hamaskämpfern ermordet wurden, verschleppt, verletzt an Leib und Seele und in Todesangst, auch in diesen Minuten, wo wir hier sitzen. Denen, die das angerichtet haben, geht es um Vernichtung von Menschen. Es ist ein Zivilisationsbruch, der an die schlimmsten Auswirkungen des Antisemitismus der Geschichte von 1933-1945 erinnert. Und das, genau das war das Ziel, Israel an diesem wundesten aller Punkte zu treffen – und die Folgen miteinzukalkulieren. Was da eskalieren kann und wer jetzt wie immer in diesen Situationen, den Preis dafür zu zahlen hat: Unschuldige, Kinder, Frauen und Männer auf allen Seiten.

Und man möchte rufen mit dem alten Gebet Israels, dem 130. Psalm aus Rutters Requiem, das wir gleich hören und viele, viele, werden dieses Gebet in den letzten Tagen in Israel gebetet, geschrien, geweint haben: „Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, Herr, höre meine Stimme. Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.“ Sich allein gelassen fühlen, hilflos, mit einem Bein im Totenreich. Die Tiefe, es sind die Wassertiefen in diesem Psalm gemeint, aus denen man sich nicht selbst befreien kann, man droht zu ertrinken. Es wird keine Rettung geben, wenn keine von außen kommt. Und das ist genau das Gefühl, das viele in Israel ja haben und es zerreißt die Leute. So schreibt zum Beispiel der ehemalige Hornist des West-Eastern-Diwan Orchestra Ofer Waldman in der Süddeutschen Zeitung von seiner Enttäuschung über die gespaltene, nach seiner Ansicht handlungsunfähige israelische Regierung, ich zitiere ihn: „Und nun schwelgt die Regierung in Rachefantasien, um ihre Ohnmacht zu kaschieren. Ein Angriff unbekannten Ausmaßes auf Gaza wird ausgeführt, mit der Hoffnung, das Donnern der Kanonen, die Wehrufe der der palästinensischen Zivilbevölkerung würden die quälenden Fragen ersticken.“ Und weiter schreibt Waldman: „Stopp. Woher kommen diese meine Worte? Sind sie jetzt angesichts des barbarischen Angriffs der Hamas angemessen? Sind sie nicht Teil jener seit Samstag zerbrochenen Erfahrungswelt, wo Menschenrechte, Menschlichkeit, noch Gültigkeit hatten? Seit Tagen gebe ich Interviews, schreibe Beiträge, Ringe mit den Worten. Schreibe ich wütend, frage ich mich, was ich damit rechtfertige – welche Verantwortung ich mit meinen Worten für die Zivilbevölkerung in Gaza trage… schreibe ich zurückhaltend, dann tue ich den Ermordeten, Misshandelten, Verschleppten, den stummen Gesichtern in den Traueranzeigen unrecht. Ich versuche, diese Zerrissenheit in mir auszuhalten, aber sie tut genau das. Sie zerreißt. Sie lässt mich nach jedem Interview mit zugeschnürter kehle zurück, lässt mich nach Luft ringen.“

Was für eine Illustration dieses Psalmwortes: „Aus der Tiefe, rufe ich, Herr zu Dir.“ Wir können nur versuchen, etwas davon zu ahnen und den Menschen in dieser Zerrissenheit beizustehen. Durch unser Gebet und auch, in dem wir jeglicher Form von Antisemitismus und Menschenverachtung wehren, woher sie auch immer kommt und wer auch immer sie äußert. Denn aus Worten werden Taten und immer wieder in der Geschichte der Menschheit auch solche wie sie Israel gerade erlebt hat. Es ist leider Realität.

„Aus der Tiefe, rufe ich, Herr zu Dir, Herr, höre meine Stimme.“ Ich denke, es ist auch mit unsere Aufgabe zu hoffen und zu beten, dass es aus dieser Tiefe einen Weg gibt für alle, die sich dort jetzt befinden. Dass es möglich wird, weiterzuleben. Und dass es auch weiter möglich bleiben wird, angesichts solcher unmenschlichen Grenzüberschreitungen menschlich zu bleiben. Es gibt so viele Stimmen in Israel selbst, die fordern, den Hass der Hamas nicht für sich zu übernehmen, Stimmen von beeindruckender Stärke. Es ist nicht an uns, da jetzt Ratschläge zu geben. Sondern zu hoffen, dass es möglich sein wird, auch wieder solche Lieder zu singen, wie wir sie am Anfang dieser Motette gehört haben, ebenfalls von John Rutter „Look at the World“, „Schau auf die Welt: So viele Freuden und Wunder, so viele Wunder entlang des Weges.“ Worte, die wir heute eher mit zugeschnürter Kehle singen oder hören, aber auf die wir doch unsere Hoffnung richten wollen und können. So wie wir auch den Trost aus William Byrds und Charles Stanfords Motetten heute hoffentlich von hier mitnehmen können im Gedenken an die Toten und Verletzen: „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an.“ Mögen sie in Frieden sein. Und möge alle Welt einstimmen in den Ruf, mit dem wir diese Motette nachher still beenden wollen – mit der Bitte aus Felix Mendelssohns Choralkantate: „Verleih uns Frieden gnädiglich.“

Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org

Gebet (VELKD-Wochengebet von Katharina Wiefel-Jenner)

Hörst du die Klage?
Siehst du die Tränen,
ewiger Gott?
Die Steine in der Wüste schreien
Dein Heiliges Land leidet.
Verzweifelte Eltern trauern um ihre Kinder.
Mit Hohngelächter sind sie gekommen
und haben die geschändet, die den Frieden lieben.
Die Mörder prahlen mit ihren Waffen.
Du bist der Gott der Gerechtigkeit.
Du wirst ja daran gedenken,
darum hoffen wir. 
Wir rufen zu Dir: Gott, erbarme Dich.

Hörst du das Weinen?
Siehst du die Angst,
ewiger Gott?
In verminten Feldern sterben Menschen und Tiere.
Kriegstage folgen auf Kriegsnächte. 
Bevor die Wunden vernarben, werden neue geschlagen.
Die Kriegsherren feiern den Tod.
Sie verachten dein Gebot.
Du bist der Gott des Friedens.
Du wirst ja daran gedenken,
darum hoffen wir. 
Wir rufen zu Dir: Gott, erbarme Dich.

Hörst du das Seufzen?
Siehst du die Kranken,
ewiger Gott?
Sie warten auf Heilung.
Sie warten auf die Linderung ihrer Schmerzen.
Erdbeben und Hunger plagt wehrlose Frauen und Kinder.
Sie hoffen auf Rettung.
Die, die den Schwachen beistehen, sind müde
und die Mächtigen kennen dich nicht. 
Du bist der Gott der Rettung.
Du wirst ja daran gedenken,
darum hoffen wir. 
Wir rufen zu Dir: Gott, erbarme Dich.

Hörst du unsere Lieder?
Siehst du unseren Glauben,
ewiger Gott?
Wir fragen nach dir.
Wir kommen zu dir.
Wir bitten dich für unsere Kinder.
Wir bitten dich für die, die du uns an die Seite stellst.
Wir bitten dich für deine weltweite Gemeinde.
Du bist gütig 
und deine Barmherzigkeit hat kein Ende.  
Du wirst ja daran gedenken.
So hoffen wir im Namen Jesu
und beten mit seinen Worten: 

Vaterunser….