Motettenansprache zu BWV 77 – Barmherziger Samariter

  • 02.09.2023
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache zu BWV 77 – Barmherziger Samariter – am 02. September 2023, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr

Liebe Motettengemeinde, liebe Thomasser,

dass Mathematik nützlich sein kann, um Gleichnisse der Bibel zu verstehen, wird vielleicht überraschen. Doch dazu später mehr.

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Sonntagsevangelium ist die Grundlage für die heutige Kantate in der Motette. Dabei geht es um die Frage nach dem Nächsten und dem richtigen Tun, sowie um die Frage nach der Liebe.

Im Tenorrezitativ wird unterstrichen, wie wichtig die tägliche Bitte um ein dem Gleichnis entsprechendes Samariterherz ist. Dass es sich lohnt, biblische Texte mehrfach und richtig zu lesen, wird ebenso in diesem Rezitativ deutlich. Denn der Vorlagengeber des Textes hat hier schlicht schlampig gearbeitet oder aber er wollte eine dem damaligen Zeitgeist durchaus nicht fremde Attitüde reinbringen – sich selbst hassen, um den Nächsten und Gott besser lieben zu können.

Dieser Zusammenhang ist natürlich völliger Unsinn, liebe Thomasser.

Denn wenn eine Liebe fehlt, geht die Gleichung kaputt.

Ich will es einmal etwas scharf formulieren.

Wo die Eigenliebe keine Rolle spielen darf, weil man sich selbst hasst, wird es hoch problematisch. Kombiniert mit religiösem Eifer und moralischer Selbsterhöhung entsteht dann jene zur Schau gestellte christliche Demut, die zu einer gefährlichen Waffe wird.

Gott möge bitte nicht geben, dass ich mich hasse, sondern mich in meiner Unvollkommenheit annehmen, um mir dadurch zu zeigen, dass ich mich auch selbst annehmen und lieben kann. Daraus entsteht jene Energie zur tätigen und manchmal sehr anstrengenden Nächstenliebe.

 

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist ein gelungenes und großartiges Beispiel dafür, wie gesellschaftliches Zusammenleben funktionieren kann. Dazu drei Gedanken:

Erstens: Man darf nicht wegsehen.

Priester und Levit gehen vorüber, weil sie ihre Prioritäten falsch setzen. Ich will nicht sagen, dass ihr Dienst im Tempel keine Bedeutung hat. Ganz im Gegenteil. Er war wichtig und nur sie konnten ihn verrichten. Jedoch mit Blick auf denjenigen, der unter die Räuber gefallen war und in diesem einen Moment ihre Hilfe sofort benötigte, haben sie versagt. Priester und Levit stehen auch für die Verantwortlichen in einer Kirche, die sich nur noch mit sich selbst beschäftigt und dadurch den Blick für das verliert, was an der Basis wichtig ist – nämlich mit den Mitteln, die man hat, Gutes zu tun.

Priester und Levit sind gefangen in ihren religiösen Grenzen und Gesetzen. Sie gehen vorüber, weil sie das schon immer so gemacht haben und weil alles so bleiben soll, wie es ist.

Da stört der Blick jenseits der gewohnten Bahn.

Ihr Blick ist allein auf das Gesetz gerichtet.

Ganz anders der Samariter. Er ist ausgestoßen und hat keine Gemeinschaft mit den anderen. Nähme er seine religiösen Gesetze ernst, müsste er nicht helfen. Er tut es trotzdem und überschreitet dadurch eine Grenze, die andere für ihn gezogen haben. Er nimmt denjenigen als Nächsten wahr, der jetzt dringend seine Hilfe braucht und beantwortet damit zeitlos die Fangfrage „Wer ist denn mein Nächster“ mit gelebter Praxis: „Mein Nächster ist derjenige, der mich gerade braucht.“

Zweitens: professionell statt stümperhaft helfen 

Der Samariter versorgt den Hilfsbedürftigen mit den Mitteln, die er zur Verfügung hat. Ich hoffe, sie erinnern sich am Ausgang, wenn sie am Kollektenbeutel stehen an genau diesen Satz.

Zu helfen mit den Mitteln, die man selbst zur Verfügung hat.

Und dann geht der Samariter auf die Suche nach professioneller Hilfe. Dafür standen damals die Herbergen. Sie waren gleichzeitig auch eine Art Pflegestation bzw. Krankenhaus.

Dabei setzt er seine Mittel und sein Vermögen ein, damit von anderen professionell geholfen werden kann. Er überfordert sich nicht mit dem, was er eigentlich nicht kann – den Kranken gesund zu pflegen, sondern er geht weiter seinen Geschäften nach, damit er Geld verdienen kann, um helfen zu können „und wenn du mehr ausgibst, will ich dirs bezahlen, wenn ich wiederkomme.“ Es stünde unser Gesellschaft gut an, sich genau daran zu orientieren. Geld für Hilfe kann nur dann ausgegeben werden, wenn es zuvor eingenommen wurde. Alles andere führt zu Lasten der nachfolgenden Generation.

Drittens: Im Einklang mit sich, Gott und der Welt leben

Die Grundfrage des Gleichnisses ist die nach dem rechten Tun und dann in der Folge nach dem Nächsten. »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«

Nächstenliebe, Gottesliebe und Eigenliebe stehen in einem direkten Verhältnis zueinander – und jetzt kommt die besagte Mathematik. Sie bilden nämlich das gleichseitige Dreieck der Liebe.

Im gleichseitigen Dreieck haben alle Winkel die Größe von 60 Grad und die drei Seiten sind gleich lang.

Wer daran auch nur ein ganz klein wenig verändert, zerstört alles. Eine Konfirmandin hat es diese Woche so formuliert.

„Wenn eine Liebe fehlt, geht die Gleichung kaputt.“.

Angewandt auf unser Gleichnis heißt das:

Wo ein Mensch sich ausschließlich um seine Liebe zu Gott kümmert, wird diese zum Selbstzweck.

Wer sich nur um den Nächsten bemüht und dabei sich völlig selbst vergisst, ruiniert Körper und Seele.

Und wer ausschließlich auf sich schaut, ohne Bezug zu Gott und der Welt … nun ja, davon gibt es genügend Beispiele.

Was aber tun, wenn die eigenen Möglichkeiten nicht ausreichen? Wie damit umgehen, wenn ich scheitere?

Unsere Liebe wird immer unvollkommen und unser Tun immer fragmentarisch bleiben, wie es die Altstimme in der Arie besingt.

Doch dort, wo ich das vollkommene gleichseitige Dreieck der Liebe als Maßstab für mein Leben nehme, habe ich die richtige Orientierung, um an den gebrochenen Alltagserfahrungen nicht selbst zu zerbrechen.

Gott schenkt Liebe.

Jesus Christus gibt ihr ein menschliches Antlitz

Und ich darf sie im Alltag leben!

Amen.

 

Pfarrer Martin Hundertmark, Thomaskirche Leipzig

hundertmark@thomaskirche.org