Motettenansprache

  • 22.05.2021
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

„Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“

Liebe Gemeinde,

das ist ein kurzer Satz, der gleichwohl die Essenz dessen ausdrückt, worum es an Pfingsten geht. Es geschieht etwas am Herzen, und das hat mit Gottes Liebe und mit Gottes Geist zu tun. Aber was heißt das?

In der Bibel wird häufig vom Herzen gesprochen. Vielleicht ist es sogar das Organ des Körpers mit der größten Bedeutung für das Nachdenken über den Menschen. Freilich geschieht das ein bisschen anders als wir das heute gewohnt sind. Das Herz ist das Organ in der Mitte. In der alten Welt betrachtete man den Magen- und Genitalbereich als das, was den Körper aufheizt, und den Kopf als, was ihn abkühlt. Das Herz in der Mitte war sozusagen das ausgleichende Element mit seinem konstanten Schlag, der durch den Körper pulst. So war das Herz das Organ der inneren Balance, auch des Denkens und sich Besinnens.

So überrascht es auch nicht, wenn mit dem Herzen manchmal der ganze Mensch gemeint ist. Hier gerinnt und manifestiert sich die Persönlichkeit, der Charakter eines Menschen. Wenn man wissen will, wer jemand wirklich ist – unverstellt und ungeschönt – dann muss man in sein oder in ihr Herz schauen. Das ist gar nicht so einfach, denn Menschen verstellen sich ja gerne oder stellen irgendwelche Fassaden vor sich auf. Das Herz ist tief im Inneren verborgen, wohin niemand so leicht kommt – und wohin man niemanden so ohne weiteres hinkommen lässt.

Es gibt eine Geschichte im Alten Testament, die das eindrücklich illustriert. Israel braucht einen neuen König. Und Samuel, die rechte Hand Gottes auf Erden, soll sich auf den Weg machen, und zwar nach Betlehem. Dort wohnt ein Mann namens Isai, der acht Söhne hat. Da müsste ja auch ein potenzieller König dabei sein! Samuel lässt diese Söhne alle vor sich her paradieren und findet auch einen, der ihm gefällt. Einer namens Eli’ab. Aber Gott treib ihm diesen Gedanken gleich wieder aus. Dieser Eli’ab mag eine gute Figur machen, aber ein zukünftiger König ist er nicht. Gott selbst erklärt Samuel den Unterschied: ‚Sieh nicht seine Gestalt an, nicht das, was er her macht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht das Herz an.‘

Hinter diesem Satz steht die Überzeugung, dass das, was wir tun und lassen, das Gute und das Schlechte, das wir in die Welt setzen, sich irgendwo einprägen, irgendwo Spuren hinterlassen. Und dieser Ort ist das Herz. Das Herz ist für die Bibel so etwas wie eine Lebensplastik oder eine innere Miniatur der Person, die wir sind – nicht die wir gerne wären oder die wir vorgeben zu sein.

Ein Herz verändert sich im Lauf eines Lebens, vielleicht mehr als andere Organe. Sein Schlag, sein Rhythmus, seine Größe und Form, die Dicke seiner Wände, Zartheit oder Verkalkung der Klappen – all das erzählt unser Leben. Das Herz ist ein starker Muskel und doch auch etwas Sensibles, etwas das brechen kann, nicht nur metaphorisch.

Was aber geschieht mit einem verbrauchten, kranken oder eben gebrochenen Herzen?

Auch dafür finden sich in der Bibel starke Bilder. Da wird es zum Teil ganz medizinisch. Gott selbst tritt dabei als eine Art Chirurg höherer Ordnung auf: Beim Propheten Jeremia heißt es, dass Gott seine Gebote auf das Herz Israels schreibt. Gottes Wort wird sozusagen zum Schrittmacher eines aus dem Takt geratenen Herzens – Gottes Wort gegen die Arhythmien im Handeln seines Volkes. Dramatischer wird es noch beim Propheten Ezekiel. Da ist das Herz Israels schon jenseits des noch Reparablen. Es braucht ein ganz neues, unverbrauchtes Herz – eines aus Fleisch und Blut, das warm ist und schlägt, statt des versteinerten, wir würden vielleicht sagen ‚verkalkten‘ Herzens, das sich in der Brusthöhle dieses Volkes befindet

In der Bibel gibt es noch ein weiteres Herzensbild, das zu dem Fest gehört, das die Christenheit morgen feiert. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Da sind wir weg von der Medizin, weg von der Chirurgie. In diesem Bild wird das Herz zu einem Gefäß – und zu einem sehr kostbaren Gefäß noch dazu –, weil es das beste in sich aufnimmt, das man überhaupt nur haben kann, nämlich Gottes Liebe. Diese Liebe ist etwas Riesiges, etwas das keine Grenzen kennt und alles sprengt, was es sie klein machen will. Liebe in göttlichem Ausmaß ist eigentlich eine Naturgewalt. Nun will die Bibel allerdings nicht nur sagen, dass Gott liebt, sondern dass diese Liebe ihren Weg findet und ankommt – bei mir, bei dir. Genau das meint unser Bibelvers damit, dass der Geist Gottes die Liebe ausgießt in unsre Herzen. Der Geist, um den es an Pfingsten geht, sorgt dafür, dass Gottes überschwängliche Liebe hineinpasst auch in unser Leben. Es ist das Werk des Geistes, dass unsere Herzen zu Gefäßen dieser Liebe werden.

Manche würden nun vielleicht fragen: Schön und gut, aber was bringt das? Nun, zumindest gibt uns dieses Bild Grund zu einer Hoffnung. Dass unsere Herzen durch die Gewohnheiten, Erfahrungen und Erlebnisse eines Lebens geformt, deformiert oder gar gebrochen werden, das wissen wir zu genüge. Und so mancher sieht es dann, wenn man auf in einem Arztzimmer das eigene Herz im Ultraschall betrachtet. Pfingsten ist das Fest christlicher Hoffnung, weil es von dem Vertrauen getragen ist, dass auch Gottes Liebe eine herzensformende Kraft ist und dass diese Liebe in uns hineinpasst und zu uns passt – etwas, das sich anschmiegt, Verengungen weitet, Blockaden löst und so eine Lebendigkeit zurückbringt, die im Leben verlorengeht.

Auch wenn wir Pfingsten eigentlich kaum noch feiern, jedenfalls längst nicht so wie Weihnachten und Ostern, ist es eigentlich das wichtigste Fest. Hier geht es nicht um ein Kind in der Krippe oder einen Mann am Kreuz, sondern um das Geheimnis, dass Gottes Geistwirken an uns nichts Äußerliches und Oberflächliches ist, sondern dort wirksam ist, wo der Mensch aus Glaube, Hoffnung und, ja, Liebe, geboren wird.

Amen.