Motettenansprache

  • 17.07.2021
  • The Rev. Dr. Robert G. Moore

"So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen." (Epheser 2,19)

Liebe Motettengemeinde,

fühlen Sie sich durch diese Anrede angesprochen? Oder denken einige: Ich gehöre doch gar nicht zur Gemeinde. Ich bin kein Kirchenmitglied. Vielleicht überlegt sich auch mancher, der zur Gemeinde gehört: Wieso vereinnahmt Rev. Moore mit seiner Anrede einfach alle? Wer dazu gehört und wer nicht, ist ein Problem, das schon in der Urchristenheit existierte. Der Spruch für die neue Woche aus dem Epheserbrief zeugt davon:

"So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen." (Epheser 2,19)

Ephesus war eine bedeutende antike Hafenstadt und Handelsmetropole an der Westküste der heutigen Türkei gelegen. In der dortigen Gemeinde gab es zwei Gruppen: Menschen, die sich als Juden der Reformbewegung um Jesus von Nazareth angeschlossen haben, und sog. Heidenchristen, die ohne die jüdische Tradition zu kennen, Christen wurden. Zwischen diesen beiden Gruppen tat sich ein Graben auf, der sich bis zur Feindseligkeit entwickelte: auf der einen Seite die Juden, die sich als Teil des auserwählten Volk Gottes fühlten, ganz nah bei Gott wähnten; auf der anderen Seite die Heiden, die sich von der Botschaft Jesu angezogen fühlten. Der Autor des Epheserbriefes versucht mit dem Verweis auf Jesus Christus beide Gruppen zusammenzuführen: Ihr seid keine Fremden, keine Gäste, ihr gehört alle zur Gemeinde! Denn das Wesen des neuen Glaubens ist Versöhnung und Frieden.

Jesus Christus war ein Jude. Vor 2000 Jahren wartete er mit einer Vision vom Reich Gottes und einer neuen Botschaft für sein Volk auf. Diese richtete sich nicht nur an Juden, sondern an alle Menschen. Jesus hat vom kommenden Reich Gottes gesprochen. Seine Vision spiegelt wider, was schon Abraham verheißen wurde. Im 1. Buch Mose ist das festgehalten:

1 Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. 2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. (1. Mose 12,1-3)

Hier liegt in Kurzform das Programm des jüdischen Glaubens vor: Gott segnet Abraham und mit ihm alle seine Nachkommen, die Jüdinnen und Juden, damit sie zum Segen werden für alle Menschen, die auf dieser Erde leben. Die Aufgabe des Judentums war nicht, möglichst viele Menschen für den jüdischen Glauben zu gewinnen. Das Judentum kennt keine Mission. Aber sie möchten möglichst viele Menschen und Völker unter dem großen Zeltdach des Gottes Abrahams sammeln, damit die Welt in Frieden leben kann.

Jesus hat versucht, alle Menschen anzusprechen – insbesondere die, die im Abseits lebten. Er wollte den Graben zwischen Fremdlingen und Einheimischen einebnen und alle zu Mitbürgern von Gottes neuer Welt machen. Das stieß auf Widerstand – bei dem führenden Juden und auch bei sog. Heiden. Jesus wurde hingerichtet – nicht zuletzt deshalb, weil seine Vision vom Frieden und der Versöhnung die Feindschaftsideologie zwischen Juden und Heiden störte. Jesus ist am Kreuz gestorben. Dennoch wurde das Werk, das Gott durch Jesus in Gang gesetzt hatte, auf wundersame Weise vollendet. Wodurch? Durch die Auferstehung Jesu von den Toten. Damit wurde sein Weg der Liebe, der Barmherzigkeit, der Treue zu Gott bestätigt. Diejenigen, die sich zu Jesus Christus bekennen, können ihr Leben weiter an ihm ausrichten – unabhängig davon, aus welcher Glaubenstradition sie kommen. Denn das Alte ist überwunden. Jetzt gilt der Glaube, der keine Abgrenzung kennt; der Glaube, der in jedem Menschen den Nächsten erkennt und entdeckt; der Glaube, der sich in der Liebe entfaltet.

Auch nach 2000 Jahren tun wir uns immer noch schwer damit, Ab- und Ausgrenzungen zu überwinden. Immer wieder teilen wir die Menschen ein in Gäste, Fremdlinge, Mitbürger, Hausgenossen. Wir hinken der Verheißung des Segens Abrahams und der Botschaft Jesu meilenweit hinterher. Dabei könnte es unter uns ganz anders aussehen – wenn, ja wenn wir nicht mehr eifersüchtig danach fahnden: Wer gehört dazu und wer nicht. Unsere Aufgabe ist, die Worte entschlossen ins Werk zu setzen, die das Gebet des Heiligen Franziskus ausmachen: lieben, verzeihen, verbinden, Hoffnung wecken, Licht anzünden, Freude bringen. So können wir schon jetzt zu Mitbürgerinnen und Mitbürger, zu Hausgenossinnen und –genossen in Gottes neuer Welt werden.

Amen.