Motettenansprache

  • 25.09.2021
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 25. September 2021

Liebe Gemeinde,

es gibt Momente, da finde ich mich selbst widerlich. Das letzte Mal in der letzten Woche. Auf dem südlichen Thomaskirchhof war es voller Menschen, ein Verkäufer des Straßenmagazins „Die Kippe“ lief dazwischen herum. Er bot mir ein Magazin zum Kauf an. Relativ offensiv. Da ich schon eins hatte, wollte ich keins kaufen. Dann ging er mich um eine „Spende“ an. Auch recht offensiv. Mir war das zuwider. Aber das war nicht das Widerliche, das ist ja vielleicht noch nachvollziehbar. Das Widerliche war, dass mir ein Gedanke durch den Kopf schoss, der mit dem Äußeren dieses Mannes zu tun hatte. Er kam schätzungsweise aus Rumänien, Bulgarien oder einem anderen Land Südosteuropas. Ich dachte: Jetzt hat diese in der Innenstadt von Leipzig irgendwie organisierte Bettelei das Straßenmagazin gekapert und nun läuft die verbotene offensive und aggressive Bettelei eben so ab, getarnt, geschützt. Das Widerliche daran: zu erkennen, in mir steckt, trotz aller äußeren Beteuerungen und innersten Überzeugungen, eben doch eine kleine Rassistin bzw. zumindest eine rassistische Ader. Eine Schmuddelecke, die ich keineswegs immer unter Kontrolle habe sondern allenfalls erst dann reflektiere oder wieder einfange, wenn ich die Situation reflektieren kann. Und leider passiert mir das immer mal wieder, dass sich das Klischee in mir auszubreiten droht: Die Roma betteln, die Sinti klauen, was weiß ich.

Das Widerlichste am Widerlichen ist dabei, dass man an dieser Stelle empfänglich sein kann für Zuspruch von außen. Wo mir jemand bestätigt: Du hast diese Gefühle zurecht, es ist genau so, wie Du es wahrnimmst. Das gibt dem Affen in mir Zucker. Und da kann es schnell kippen. Gottseidank meine ich, mir dieser Seite einigermaßen bewusst zu sein. Denn diese Seiten, diese Schmuddelecken, sie gehören zu uns, sie sind da. Die Frage ist, wie wir uns zu ihnen verhalten. Ob wir ihnen mehr Raum geben als nötig. Nun sind wir umgeben von verschiedensten Interessen, die sich von solchen Seiten in uns nähren, die davon leben, sie anzuheizen, indem sie uns die Bestätigung versprechen, die uns vielleicht an anderer Stelle in unserem Leben fehlt. Das reicht von bestimmten Internetportale und Seiten bis hin zu Parteien, die mit diesen Schmuddelecken und Ressentiments in uns Politik machen wollen bzw. auch in diesem Wahlkampf ja mehr als präsent sind. Da legt eine Partei in Würzburg drei mit Kunstblut bespritzte Puppen aufs Pflaster, offenbar eine Anspielung auf die drei Bewerber für das Bundeskanzleramt. Zuvor hatte diese Partei in Zwickau Plakate mit dem Text „Hängt die Grünen“ aufgehängt. Und in beiden Fällen wurde das in erster Instanz als im Rahmen der Meinungsfreiheit zu dulden beschieden. Man kann sich da an den Kopf fassen. Aber wie immer in solchen Fällen am besten zunächst an den eigenen. Denn was geht in einem vor, wenn man so etwas selbst irgendwie gleichmütig hinnimmt? Obwohl wir alle wissen, so etwas macht etwas mit uns, so etwas macht etwas mit Menschen. Der Mord an Walter Lübcke, der Überfall auf die Synagoge in Halle vor nunmehr zwei Jahren oder jüngst der Mord in Idar-Oberstein, all das spricht Bände.

Ich meine: Wir müssen uns mit diesen Seiten in uns mehr auseinandersetzen. Schon von klein auf. Müssen es lernen mit unseren Widerlichkeiten umzugehen um ihnen nicht so viel Raum zu geben, wie sie ihn sich immer wieder nehmen wollen. Die alten Theologen – die heutigen durchaus auch – sprechen bei diesem psychologisch mittlerweile auch gut untersuchten Phänomen von der „Sünde“ oder, weil sie uns so treu ist und sich offensichtlich niemand entziehen kann, von der sog. „Erbsünde“. Wortgebend ist der „Sund“, also eine Wassermenge zwischen zwei Ufern, zwischen denen es keine Verbindung gibt. Gedanke der Theologen: So ist es zwischen dem Menschen, wie er ist und dem, wie er gedacht ist – und selbst auch gerne wäre. Und so ist es auch zwischen Gott und Mensch selbst. Es gibt immer wieder diesen Spalt, dieses wilde Wasser dazwischen.

Und damit müssen wir umgehen. Nach der Brücke schauen, die es vielleicht gibt. Christen sagen: Es gibt sie. Es gibt sie, weil sie für uns gebaut worden ist. Von Gott. In Jesus, der war wie wir. Der diesen Spalt in sich auch kannte. Den auch die Evangelien daher ganz bewusst auch als aufbrausend, abweisend und in gewisser Weise eigenbrötlerisch schildern. Menschlich halt, wahrer Mensch. Auch die, die das so nicht glauben können oder wollen, feiern aber, aus guten Gründen, seine Geburt. Feiern Weihnachten. Vielleicht weil sie auf eines nicht verzichten wollen in dem, wie sie sich auch selbst manchmal erleben in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihrer Angst: auf die Botschaft, die mit diesem Menschen in die Welt kommt und uns von den Boten des Himmels zugesungen wird: „Fürchtet Euch nicht, denn Euch ist heute der Heiland geboren.“ Mit anderen Worten: Die Brücke, die ihr sucht, sie ist gebaut!

Wir haben eben eine Motette von Knut Nystedt gehört, in der am Ende diese Botschaft zu hören war: „Fürchte Dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir. Ich halte dich durch rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ Wir brauchen das nicht nur zu Weihnachten, diesen Zuspruch. Und schaut man in die Bibel, findet man gut und gern 365mal in verschiedenen Varianten diese „Fürchte dich nicht“. Einmal für jeden Tag des Jahres. Und es ist jeden Tag das, was am Anfang stehen sollte von all dem, was wir tun und sagen – und ja bis hin zu dem, wie wir unsere Wahlentscheidung treffen. Was lasse ich über mich bestimmen? Welche Seiten in mir möchte ich ihre Stimme abgeben lassen und welche nicht? In welcher Haltung möchte ich leben? Welche wähle ich? Meine Entscheidung, Ihre Entscheidung, unser aller Entscheidung. Gott gebe uns die Kraft dafür, dazu zu stehen. Amen.

 

Gebet

Unser Gott, der Du uns Vater und Mutter bist und so viel mehr, wir danken Dir am Ende dieser Woche für all das Gute, was wir haben erleben dürfen. Für die Liebe von Menschen, die wir geschenkt bekommen haben. Für Zeichen und Gesten, dass man uns schätzt und mag. Wir bitten Dich: Mach uns stark dazu, dass auch wir solche Zeichen setzen können. Dass wir sie auch denen zukommen lassen, mit denen wir es schwer haben und die Widerstand in uns auslösen. Hilf uns, unsere Ängste und unsere Furcht vor anderem und Fremden nicht über uns herrschen zu lassen. Herz und Verstand hast Du uns geschenkt und Freiheit, beides zu gebrauchen. Hilf uns, es auch zu tun. Heute, morgen und alle Tage. Mit Jesu Worten beten wir gemeinsam: Vaterunser…

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org