Motettenansprache

  • 26.02.2022
  • Rev. Dr. Robert G. Moore

Motette in der Thomaskirche zu Leipzig

25. Februar 2022

The Rev. Dr. Robert Moore, Gastpfarrer und Vertreter der Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika

Lesung Lukas 18,31-34

31 Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. 32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.

Ansprache

Liebe Motettengemeinde, jeder in meiner Generation las in der Schule das Gedicht „Invictus“ (auf Deutsch: unbezwungen, oder der Unbesiegbare). Es stammt vom englischen Dichter William Ernest Henley. Ich musste es noch auswendig lernen. In diesem Gedicht heißt es:

Aus der Nacht, die mich bedeckt,

Schwarz wie die Grube von Pol zu Pol,

Ich danke allen möglichen Göttern

Für meine unbesiegbare Seele.

In der Falle der Umstände

Ich habe weder gezuckt noch laut geweint.

Unter dem Knüppel des Zufalls

Mein Kopf ist blutig, aber ungebeugt.

Es spielt keine Rolle, wie eng das Tor ist,

Wie aufgeladen mit Strafen die Schriftrolle,

ICH bin der Meister meines Schicksals:

ICH bin der Kapitän meiner Seele.

--William Ernest Henley (1849 – 1903)

 

In diesen Zeilen spiegelt sich das persönliche Schicksal von Henley wider. Er litt ab dem 12. Lebensjahr an Tuberkulose und ist im Alter von 53 Jahren daran gestorben. Man spürt dem Gedicht ab, wie Henley mit seiner Krankheit kämpft. Offensichtlich will er der Tuberkulose nur so viel Raum geben, wie irgend notwendig. Seinem ICH aber soll sich die Krankheit nicht bemächtigen.

Das kommt in den letzten beiden Zeilen des Gedichtes zum Ausdruck:

ICH bin der Meister meines Schicksals:

ICH bin der Kapitän meiner Seele.

Nun kann man diese Zeilen leicht missverstehen in dem Sinn: ICH allein bin der Herr meines Schicksals.  Das entspricht durchaus unserem heutigen Lebensgefühl: Nur ICH allein! Henley wollte aber das zum Ausdruck bringen, was ein ganz wichtiger Faktor für den Kampf gegen eine Krankheit ist: sich selbst nicht aufgeben; das eigene ICH gegen den Krebs oder Viren behaupten. Davon müssen wir eine Individualität unterscheiden, die nur noch das eigene ICH sieht und die damit Gott und den Nächsten aus den Augen verliert. Dieser Narzissmus ist weiter verbreitet, als es dem freiheitlichen Zusammenleben guttut.

Denken wir an das Impfen. Natürlich kann nicht jeder geimpft werden. Bis jetzt kann auch jeder frei darüber entscheiden, ob er sich impfen lässt oder nicht. Aber wir wissen, dass das Impfen nur dann wirksam ist gegen die Pandemie, wenn sich ein hoher Prozentanteil der Bevölkerung impfen lässt. Das ist leider weder in den USA noch in Deutschland der Fall. Nun ist die Frage: Wie sollen wir uns entscheiden? Kann ich nur an mich selbst denken, oder muss ich auch die Folgen für die Gesellschaft bedenken? Ja, wir sind frei in der Entscheidung! Aber wir tragen auch Verantwortung für den Nächsten, konkret Verantwortung dafür, dass die Pandemie in ihren Auswirkungen eingegrenzt wird. Aus dieser Verantwortung können wir uns nicht selbst entlassen.

In den westlichen Gesellschaften hat sich aber ein absolutistisches Verständnis von Freiheit breit gemacht. Dieses geht davon aus: ICH bin frei; ICH kann tun und lassen, was ICH will. Bei diesem Verständnis kommt aber die gegenseitige Rücksichtnahme bzw. die Nächstenliebe unter die Räder. Wir können aber von Freiheit nur dann glaubwürdig sprechen, wenn wir das in den Blick nehmen, was uns bindet – und das ist nach unserer Glaubensüberzeugung: Gott und der Nächste. Das unterscheidet Freiheit von Beliebigkeit.

Das ist auch der Grundinhalt der Verkündigung Jesu. Im Lukasevangelium zitiert Jesus zu Beginn seiner Tätigkeit ein Wort aus dem Prophetenbuch des Jesaja:

18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit 19 und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« (Lukas 4,18-19)

Was hier deutlich wird: Unser Leben wird durch Jesus Christus untrennbar verbunden mit dem Schicksal derer, die an den Rand gedrängt sind, verachtet werden, an ihrer Schwachheit leiden. Die Propheten haben verdeutlicht, dass die Ursache für solches Leiden in der Rücksichtslosigkeit der Mächtigen liegt, also derer, die nur ihr ICH, ihren Vorteil, ihre Macht sehen. Die Geschichte lehrt uns bis heute, wohin dieser militante Egoismus führt: zum Despotismus eines Putin, Stalin, Hitler. Dagegen setzt Jesus bis zu seinem Tod am Kreuz die Überzeugung: Am Ende bestimmen nicht die ICH-Süchtigen, auch nicht das Leiden das Leben, sondern Gott allein.

Das wird auch an Jesu leidvollem Weg nach Jerusalem, wie er in der Kantate „Sehet! Wir gehn hinauf nach Jerusalem“, beschrieben wird, deutlich. Jesus sieht seinen Weg von Gott bestimmt und versteht ihn als einen Weg der Freiheit bzw. zur Freiheit. Allerdings: Das ist für uns Menschen bis heute nur schwer nachvollziehbar, wie damals für die Jünger. Denn es fällt uns nach wie vor schwer, Ohnmacht, Leiden, Sterben mit Freiheit in Verbindung zu bringen. Jesus will uns aber genau dies ermöglichen – in dem Sinn, wie Paulus es von Gott bezeugt: „Meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig.“ (2. Korinther 12) In diesem Sinn können wir dann auch Aussagen nachvollziehen, wie wir sie im Schlusschoral der Kantate hören:

Jesu, deine Passion

Ist mir lauter Freude.

Ja, am Ende der Freiheit, die das ICH mit dem Nächsten verbindet und sich als Geschenk Gottes versteht, steht nicht das Elend, steht nicht der Machthunger sondern eine neue Lebensfreude. Diese feiern wir am Ostermorgen und diese lässt uns verantwortlich leben.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.