Motettenansprache

  • 06.11.2021
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 16. November 2021

Johann Sebastian Bach, Kantate BWV 115, 1724

 

1.Choral

Mache dich, mein Geist, bereit,

wache, fleh und bete,

daß dich nicht die böse Zeit

unverhofft betrete;

denn es ist

Satans List

über viele Frommen

zur Versuchung kommen.

 

2. Aria

Ach schläfrige Seele, wie? ruhest du noch?

Ermuntre dich doch!

Es möchte die Strafe dich plötzlich erwecken

und, wo du nicht wachest,

im Schlafe des ewigen Todes bedecken.

3.Recitativo

Gott, so vor deine Seele wacht,

hat Abscheu an der Sünden Nacht;

Er sendet dir sein Gnadenlicht

und will vor diese Gaben,

die er so reichlich dir verspricht,

nur offne Geistesaugen haben.

Des Satans List ist ohne Grund,

die Sünder zu bestricken;

brichst du nun selbst den Gnadenbund,

wirst du die Hilfe nie erblicken.

Die ganze Welt und ihre Glieder

sind nichts als falsche Brüder;

doch macht dein Fleisch und Blut hiebei

sich lauter Schmeichelei.

 

4.Aria

Bete aber auch dabei

mitten in dem Wachen!

Bitte bei der großen Schuld

deinen Richter um Geduld,

soll er dich von Sünden frei

und gereinigt machen!

 

5.Recitativo

Er sehnet sich nach unserm Schreien,

er neigt sein gnädig Ohr hierauf;

wenn Feinde sich auf unsern Schaden freuen,

so siegen wir in seiner Kraft:

indem sein Sohn, in dem wir beten,

uns Mut und Kräfte schafft

und will als Helfer zu uns treten.

 

6.Choral

Drum so lasst uns immerdar

wachen, flehen, beten,

weil die Angst, Not und Gefahr

immer näher treten;

denn die Zeit

ist nicht weit,

da uns Gott wird richten

und die Welt vernichten.

 

Liebe Gemeinde,

zehntausend Zentner Silber gegen 100 Silbergroschen – dieser Gegensatz versinnbildlicht in der Geschichte vom sog. „Schalksknecht“ den Gegensatz von göttlicher Güte und der Unbarmherzigkeit, in der wir Menschen oft miteinander umzugehen pflegen.  Wie selbstverständlich geht da derjenige, der Schulden unglaublichen Ausmaßes gemacht hat, den Mitknecht an - und bringt ihn genau in die Situation, der er gerade entronnen ist. Gerade davongekommen, gönnt man dem anderen nicht, was man nunmehr für sich als selbstverständlich betrachtet. Und fordert von ihm, was man selbst nicht zustande kriegt. So geht es durchaus oft zu unter uns. Leider.

In seiner zum 22. Sonntag nach Trinitatis 1724 komponierten Kantate bringt Johann Sebastian Bach diesen Gedanken aus der Geschichte vom Schalksknecht zum Klingen und legt ihr den Choral: „Mache dich, mein Geist bereit“, zugrunde. Ein Choral, der einen dazu aufruft, sich selbst gegenüber wach zu werden bzw. zu bleiben – und nicht zum Bruder oder zur Schwester des Schalksknechts dieser Geschichte zu mutieren. So heißt es im Eingangschor „Mache dich, mein Geist, bereit, wache, fleh und bete, dass dich nicht die böse Zeit unverhofft betrete, denn es ist Satans List über viele Frommen zur Versuchung kommen“. Die „böse Zeit“ – sie hat sicher viele Gesichter. Vielleicht im Moment auch das der steigenden Ansteckungen und der erhöhten Inzidenzwerte, der sich füllenden Intensivstationen, der Impfdurchbrüche. „Böse Zeit“ – vielleicht auch, dass nicht nur Feindschaften gepflegt werden, sondern Freundschaften über dem Covid/Corona- Thema zerbrechen. Dass man schnell nicht mehr zueinander kommt, sobald man im Gespräch auf der moralischen Schiene unterwegs ist.  Wie schnell meint man selbst, zumindest besser als der andere Bescheid zu wissen, was zu tun ist – und vor allem, wer Schuld hat an der ganzen Misere. Da kann dann schon einer dem anderen an den Kragen gehen, ganz direkt, wie in dieser Geschichte, wo sich der erste Knecht derart in seine Wut hineinsteigert, dass er den anderen packt und würgt, also völlig die Kontrolle über sich verliert. Auch das ist jetzt und heute zu erleben und wir können nur appellieren und hoffen und beten, dass es heute hier in der Stadt friedlich bleibt bei den Demonstrationen. Und dass diejenigen heute die Atmosphäre bestimmen, die wissen: Wir stecken alle mit drin in der Situation (Pan-Demie!). So wie in dieser biblischen Geschichte alle mit drinstecken. Aber wir werden sie nur bewältigen, indem wir aufhören mit würgen und packen. Und indem wir wach bleiben für einen nüchternen und pragmatischen Umgang mit dem Thema. Denn wie „unverhofft betritt sie einen, die böse Zeit“, wie es im Eingangschoral heißt. Wir müssen es ja nicht zulassen, dass sie einen so betritt wie einen Kampfplatz. Und wir müssen es nicht zulassen, dass sie uns so unvermittelt überfällt wie die schläfrige Seele, von der in der Alt-Arie die Rede ist. Deshalb ist es nötig, mit „offenen Geistesaugen“ durch die Welt zu gehen, wie es im folgenden Bassrezitativ heißt. Wach sein, um nicht den Gnadenbund zu brechen. Wo der andere zum Unmenschen erklärt wird oder Gewalt und Aggression zu politischen Mitteln, da ist es so weit. Und auch dort, wo jemand für sich auf Verständnis pocht, aber dem anderen jegliches Verständnis für seine Haltung abspricht. Da gerät die ganze Sache in Schieflage – so wie in der biblischen Geschichte, der Grundlage für die Kantate, die wir gleich hören.

Eindringlich ergeht in dieser Kantate die Warnung davor, sich von diesen Aggressionen in sich steuern zu lassen. Denn die „Falschen Brüder“, die hier  erwähnt werden, sie finden sich ja durchaus auch in einem selbst. Seien wir also wach und halten sie klein. Und geben dem Raum in uns, wozu uns die Kantate aufruft und ermutigt: „Mache Dich, mein Geist bereit.“ Davon werden wir in diesen Tagen viel brauchen. Amen.

Gebet mit Verlesung der im letzten Jahr verstorbenen ehemaligen Thomasser

Während des folgenden Gebets wollen wir derjenigen ehemaligen Thomaner gedenken, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Wir bringen ihre Namen vor Gott.

Lasst uns beten:

Unser Gott, wir bitten Dich: Du hast uns Mut und Kräfte geschenkt und uns mit Vernunft und Geist begabt. Hilf uns, dass wir darin wachsen und uns gerade in schwerer Zeit dieser Gaben bedienen. Hilf uns zu klaren und nüchternen Diskussionen zu kommen über das, was jetzt Not tut und was wichtig ist. Wir bitten Dich für die Ratlosen, für die Verzweifelten, für die Wütenden, für die Resignierten. Wir bitten Dich für die Kranken, für die Schwachen und für die Starken. Und wir bitten Dich für alle, die unter ihrer Last zu zerbrechen drohen. Sei Du an ihrer Seite. Und sei auch mit unseren Verstorbenen und bei denen, die um sie trauern. So bringen wir vor Dich die Namen der verstorbenen ehemaligen Sänger des Thomanerchors.

Vaterunser

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org