Motettenansprache

  • 21.05.2022
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Kurzpredigt zur Motette, 21.5.2022, Thomaskirche Leipzig

 

Andreas Schüle

 

 

Teil I

 

Liebe Gemeinde,

 

als jemand, der im schwäbischen Pietismus aufwuchs, musste ich im Konfirmandenunterricht noch den Katechismus auswendig lernen. Da gab es auch einen Absatz über das Gebet. Der lautete so: „Das Gebet ist ein Reden des Herzens mit Gott in Dank, Anbetung und Fürbitte“. Mit dem Reden des Herzens war wohl gemeint, dass Gebete kein oberflächliches, gefärbtes Gerede sein sollen, sondern etwas, das aus der Tiefe kommt. Etwas, das echt und ernstgemeint ist. Gleichwohl gibt es eine Regieanweisung: Beten soll man in Dank, Anbetung und Fürbitte. Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Man soll wissen und respektieren, dass man im Gebet nicht irgendjemandem oder irgendetwas gegenübertritt, sondern dem Grund und Ursprung allen Lebens.

 

Wozu der Katechismus mahnt, gelingt nicht immer – auch und gerade in der Kirche nicht, wo manchmal ziemlich trivial gebetet wird. So als sei Gott Sorgentelefon, Mentalcoach, Kneipenbruder, Frauen- oder Männerversteher, oder Wünscheerfüller. Kirchliche Zusammenkünfte beginnen in der Regel mit einem Gebet, und da wird Gott dann gebeten, dass „er“ nun gute Beratungen, kluge Gedanken, gutes Wetter, große Tortenstücke und wer weiß was noch was alles geben möge. Ich bete immer, dass Gott das nicht hört … .

 

Nun ist Gebet zunächst einmal gar nichts Kirchliches und auch nicht unbedingt etwas Religiöses. In Kunst, Musik und Literatur findet man es oft, dieses Wort „Gebet“. Damit ist etwas ganz Elementares gemeint: Menschen beten, wenn ihre Trauer oder ihre Freude, ihre Unsicherheiten oder ihre Begeisterung nach außen dringen wollen – selbst dann, wenn gar niemand da ist, der das sieht oder hört. Manchmal ist der eigene Körper und die eigene Seele zu klein, um all das in sich einschließen zu können, was uns bewegt. Es ist wohl so, dass wir Menschen nicht bei und in uns bleiben können, sondern dass wir uns mitteilen, ausdrücken müssen in der Hoffnung, dass das irgendwo ankommt und wahrgenommen wird.

 

Der Popsänger Adel Tawil brachte 2017 einen Song heraus, der sich gut ein halbes Jahr lang in den Charts halten konnte und seither mehrmals gecovert wurde. Er trägt den Titel „Ist da jemand?“ und beginnt so:

 

Ohne Ziel läufst du durch die Straßen Durch die Nacht, kannst wieder mal nicht schlafen Du stellst dir vor, dass jemand an dich denkt Es fühlt sich an als wärst du ganz alleine Auf deinem Weg liegen riesengroße Steine Und du weißt nicht, wohin du rennst. Wenn der Himmel ohne Farben ist Schaust du nach oben und manchmal fragst du dich Ist da jemand, der mein Herz versteht? Und der mit mir bis ans Ende geht? Ist da jemand, der noch an mich glaubt? Ist da jemand? Ist da jemand? Der mir den Schatten von der Seele nimmt? Und mich sicher nach Hause bringt? Ist da jemand, der mich wirklich braucht? Ist da jemand? Ist da jemand?

 

Man kann es gar nicht genau sagen, wie sich der Wanderer dieses Songs, der da nachts durch die Straßen irrt, diesen „jemand“ vorstellt oder wünscht. Ist das ein anderer Mensch, bei dem ich zur Ruhe kommen kann – oder geht es um die Sehnsucht nach jemand da draußen, der die Antwort nach Sinn und Erfüllung unserer Existenz kennt. Oder vielleicht ist es beides?

 

„Ist da jemand?“ ist jedenfalls die Frage, die Erwartung, die Sehnsucht, mit der ein Gebet beginnt – sei es nun ein religiöses Gebet oder ein anderes.

 

So beginnt es. Es beginnt mit einem Körper, der aufblüht oder leidet, der spricht und schreit, ohne dass wir das immer verstehen – oder manchmal erst dann, wenn es zu spät ist. Es beginnt mit den ungeformten Ängsten, Erwartungen, mit der Ahnung von Freude, die aus der Tiefe an die Oberfläche und nach außen dringen. Es beginnt mit einer Einsamkeit, weil ich weiß, dass egal, was ich tue oder woran ich glaube, ich nie so geborgen und aufgehoben bin, wie ich mir das wünsche.

 

Gebete beginnen ohne Worte, weil es keine Vokabeln und keine Grammatik für das gibt, was sich im Gebet verdichtet. Gebete haben alle Sprachen und keine, weil das, was darin nach Gestalt ringt, seinen ganz eigenen Klang und Rhythmus finden muss.

 

Gerade darum gibt es Gebet auch in der Musik. Was wir heute von der Orgel hören, sind die Gebete ohne Worte, die nach außen dringen, die nach dem „jemand“ rufen, von dem wir ahnen ohne jemals zu wissen, dass er da ist. Vielleicht ist aus diesem Grund betende Musik oder musikalisches Gebet eine wunderbare Einstimmung für uns selbst, wenn uns die Worte fehlen, wenn uns fromme Gesten unerwachsen und unangenehm erscheinen.

 

Teil II

 

Aber was, wenn es dann doch nicht mehr ohne Worte geht, wenn das Gebet einen Halt braucht in der uns vertrauten Sprache? Gerade dann wird es schwierig. Was soll man, was kann man sagen, das nicht trivial, unpassend, schwerfällig, oder vielleicht sogar einfach nur gelabert daherkommt? Was kann man sagen, damit das Gebet aus der Tiefe unseres Leibes und unserer Seele nicht schal und matt wird, wenn es an der Oberfläche ankommt. Für den christlichen Glauben ist das „Vater unser“, Jesu eigenes Gebet, dafür der Anhalt. Nicht dass man nicht auch anders beten könnte, aber das Vater unser ist der Ausgangspunkt – Brot und Butter des Betens sozusagen.

 

Genau danach fragen Jünger ihren Meister, als sie zu ihm kommen und ihn fragen, wie sie beten sollen, weil sie das von allein genauso wenig können wie wir. Und tatsächlich warnt Jesus sie davor, aus Unvermögen in Geplapper und Geschwätzigkeit zu verfallen. Man redet ja bekanntlich am meisten, wenn man am wenigsten zu sagen hat. Nein, beten geht gar nicht mit mir los, sondern mit Gott: „Vater unser im Himmel, dein Reich komme, dein Wille geschehe!“ Wenn man es ganz genau nimmt, ist damit eigentlich schon alles gesagt. Denn was kann man sich und der Welt mehr und Besseres wünschen, als dass Gottes Wille geschehe! „Dein Reich komme, dein Wille geschehe!“, das sollte man eigentlich still vor sich hinsagen, während man die Nachrichten anschaut oder die Zeitung liest. Wenn da Präsidenten und Mächte sich die Welt nach ihrem eigenen Gusto zurechtlegen, uns einmal mit Kriegsdrohungen einschüchtern und dann wieder mit Friedensversprechungen in Sicherheit wiegen, dann steht dagegen klar und fest der Satz „Dein Wille geschehe“.

 

Oft meinen wir in unseren Gebeten ja, wir müssten Gott Vorschläge machen, wie „er“ denn handeln solle: Was er gegen die Hungersnöte auf der Welt tun und wie er der ökologischen Gefährdung entgegenwirken soll. Und dass er doch endlich Frieden schaffen möge, wo die Welt in Flammen steht. An all das sollte man tatsächlich auch denken und sein Herz nicht vor den grausigen Realitäten dort draußen verschließen, auch nicht im schönen Leipzig. Aber der Text zu diesen Gedanken ist nicht lang und gedrechselt, sondern ganz einfach: „Dein Wille geschehe!“ Wenn man das wirklich meint, wirklich will, und dabei nicht nur den lieben Gott einen guten Mann sein lässt, dann muss man gar nicht mehr sagen. Erst, wenn wir diesen Satz ganz verinnerlicht haben, machen wir ernst damit, dass Gebete nicht nur Abziehbilder unserer eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind. Diesen Satz „Dein Wille geschehe“ betet Jesus selbst noch ein weiteres Mal, und zwar im Garten von Gethsemane in der letzten Nacht vor der Kreuzigung. „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen, aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Da wird dann auch deutlich, welche Konsequenz darin liegt, dass Gottes Wille geschehe.

 

Aber auch wenn damit eigentlich alles gesagt ist, geht es im Vater uns auch um das, was man braucht und worum man tatsächlich bitten soll: „Unser täglich Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Auf einen knappen Nenner gebracht geht es um alles, was wir für Leib und Seele brauchen. Man könnte fragen, warum das so trist daherkommt. Vergebung, Versuchung, Erlösung – das sind doch ziemlich düstere Kaliber! Warum nicht „gib uns Freude, Geselligkeit, Harmonie und auch ein bisschen Spaß am Leben“, denn – mal Hand aufs Herz – das wollen und brauchen wir doch auch. Aber vielleicht ist das genau der Punkt: Um das Gute und Schöne im Leben kümmern wir uns von ganz allein. Da haben wir keine Not. Aber wir sind nicht immer Weltmeister, wenn es darum geht, mit den Beschädigungen umzugehen, die uns zugefügt werden und die wir selbst anderen zufügen. Darum brauchen wir Vergebung genauso wie das tägliche Brot. Ohne das eine verhungert der Leib, ohne das andere stirbt die Seele.

 

Das Vater unser ist nicht das einzige und nicht das letzte Gebet – eher ist es eine Art Vorzeichnung, die dann jeder mit seinen oder ihren Farben und Formen ausmalt. Und so ist es auch gedacht. Man muss kein besonders frommer oder religiöser Mensch sein – aber wenn einen dann doch einmal das Bedürfnis überkommt zu beten und sich dafür eine keine Worte finden wollen, ist das Vater unser ein Anfang. Und alles andere geschieht dann von selbst.