Motettenansprache

  • 02.12.2022
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache am 02.12.2022, St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr – Orgelvesper mit Choralpredigt zu EG 11, 1.5-10

TEIL 1

 

1. Wie soll ich dich empfangen

und wie begegn ich dir,

o aller Welt Verlangen,

o meiner Seelen Zier?

O Jesu, Jesu, setze

mir selbst die Fackel bei,

damit, was dich ergötze,

mir kund und wissend sei.

 

5. Nichts, nichts hat dich getrieben

zu mir vom Himmelszelt

als das geliebte Lieben,

damit du alle Welt

in ihren tausend Plagen

und großen Jammerlast,

die kein Mund kann aussagen,

so fest umfangen hast.

 

6. Das schreib dir in dein Herze,

du hochbetrübtes Heer,

bei denen Gram und Schmerze

sich häuft je mehr und mehr;

seid unverzagt, ihr habet

die Hilfe vor der Tür;

der eure Herzen labet

und tröstet, steht allhier.

 

Liebe Motettengemeinde,

 

„Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir?“

Eine adventliche Frage des Suchenden stellt Paul Gerhardt in der ersten Strophe seines berühmten Chorals. Ja, wie sollen wir denn Christus empfangen, wo er vielen Menschen doch so weit entfernt scheint?

Advent ist auch die Zeit der Vergewisserung, besonders da, wo christlicher Glaube nicht mehr selbstverständlich ist.

Mit dem Symbol der Fackel und den Palmzweigen wird eine inhaltliche Brücke vom Ende des Kirchenjahres in den Advent gebaut. Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen erzählt uns vom Warten auf Christus und der Bereitschaft, aufzubrechen, wenn es an der Zeit ist. Christus als Licht der Welt kommt uns auf unseren Alltagswegen entgegen, er entzündet die Fackel selbst durch den Glauben und weist uns somit den Weg zu ihm.

Der Grund seines Kommens liegt nicht darin, dass meine menschlichen Wünsche erfüllt werden, sondern darin, dass ich als Mensch erlöst werde. Erlöst von schweren Banden, von Leid und Lasten, die zu tragen mir schlichtweg manchmal unmöglich ist.

In der fünften Strophe entspricht das göttliche Umfangen, dem menschlichen Empfangen aus Strophe eins. Gottes Liebe ist die Energie, die ihn selbst in Bewegung zu uns Menschen setzt, damit wir, in ihr geborgen, unseren Weg gehen können. Dafür gibt es keine Bedingung. Keine Leistung ist zu erbringen, damit Gott solche Zuwendung mir geschehen lässt.

Hier zeigt sich, wie tief verwurzelt Paul Gerhardts Frömmigkeit in der Lutherischen Theologie ist.

Sein ganzes Lied ist eine melodische und künstlerische Auslegung der Rechtfertigungslehre des Paulus, so wie sie Martin Luther wiederentdeckte.

Im zweiten Teil des Liedes zeigt uns Paul Gerhard, dass wir einem Gott vertrauen dürfen, der uns nicht im Stich lässt. Die existenzgefährdenden Erfahrungen von Gram und Schmerz, frühen Tod, Krieg, Hunger und unsäglichem Leid, sind Erfahrungen des Lieddichters gewesen.

Sie lassen sich aus unseren Lebensbezügen auch heute nicht streichen.

Wer einen lieben Menschen kurz vor Weihnachten verloren hat, dem wird ein freudiges Lied nur schwer über die Lippen kommen. Und wo statt Weihnachtsglückwünschen der Entlassungsbrief mit der Post zugestellt wird, verdunkelt sich die Zukunft sehr schnell, weil die Frage, wie Leben weitergehen soll auf einmal zur alles entscheidenden Frage wird. Gott wird als Seelsorger beschrieben, der nicht fern ab irgendwo ist, sondern ganz nahe, direkt vor der Tür. So will er trösten, wo menschliche Worte nichts mehr auszurichten vermögen, will da sein und uns einhüllen in seine göttliche Geborgenheit.

 

Nach dem Musikstück singen wir gemeinsam die Verse 7 und 8

 

7. Ihr dürft euch nicht bemühen

noch sorgen Tag und Nacht,

wie ihr ihn wollet ziehen

mit eures Armes Macht.

Er kommt, er kommt mit Willen,

ist voller Lieb und Lust,

all Angst und Not zu stillen,

die ihm an euch bewusst.

 

8. Auch dürft ihr nicht erschrecken

vor eurer Sünden Schuld;

nein, Jesus will sie decken

mit seiner Lieb und Huld.

Er kommt, er kommt den Sündern

zu Trost und wahrem Heil,

schafft, dass bei Gottes Kindern

verbleib ihr Erb und Teil.

 

TEIL 2

 

Liebe Motettengemeinde

In der christlichen Anthropologie ist u.a. eine Frage entscheidend: Wie gehen wir mit Schuld und Verfehlungen um, wenn menschliches Tun und Treiben dem göttlichen Willen entgegensteht?

Was tun wir mit der Erfahrung, dass Rücksichtslosigkeit, Gewalt, dass Hass und Ausbeutung viel mehr Aufmerksamkeit bekommen als Sanftmut und Liebe?

Und gibt es Rettung für diejenigen, die es zwar immer wieder versuchen mit Gott, aber mit ihren Zweifeln und ihrem Kleinglauben scheitern?

Auch hier dient der Verweis auf das Christusgeschehen als Schlüssel zu Beantwortung dieser Frage. Ja, es gibt ein Retten aus all dem heraus. Menschliches Versagen muss uns nicht niederdrücken, wenn wir fest darauf vertrauen, dass Jesus Christus unser Fürsprecher ist.

„Er kommt, er kommt den Sündern zu Trost und wahrem Heil“

Mit dem doppelten „Komm“-Motiv, das uns in den Strophen 7-10 begegnet, greift Paul Gerhardt die Sehnsuchtsfrage aus der ersten Strophe auf. Es ist praktisch eine Vergewisserung des Glaubenden, sozusagen adventliches Wegzehrbrot für eine hungernde und dürstende Seele. Allen Anfechtungen und allen Anfragen zum Trotz bleibt Gott bei seinen Zusagen. Ja, Christus kommt dir entgegen. Er kommt als Seelsorger, als Heiland und als König in dein Haus, um dich zu stärken und zu umfangen.

Daran werden auch alle (Kriegs)Herren dieser Welt nichts ändern können. Oder, um es mit Gustav Heinemann zu sagen: „Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt.“

Nun schwenken wir in die Auslegung lutherischer Rechtfertigungslehre.

Denn aus der Zuwendung Christi zu uns folgt nicht etwa Beliebigkeit, sondern Bestärkung, im Hier und Jetzt Lebensmöglichkeiten zu entdecken und sie zu gestalten. Mag uns manches dabei feindlich entgegenstehen. Es ist und wird nur vorläufig bleiben. Denn der Weg des in die Welt kommenden Christus ist ein Weg, dessen Ziel die unzerbrechliche Gotteskindschaft hat.

Heilsversprechen sind meistens nicht alltagstauglich, weil sie dort zerschellen, wo Leben angefochten ist. Gottes Versprechen ist sein Trost in Jesus Christus. Dadurch wird er zu unserem wahren Heil oder, um es mit Paul Gerhardt zu sagen „zum ewgen Licht“ im Freudensaal. Somit baut die letzte Strophe mittels des Lichtmotivs von Sonne einen Bogen zur Fackel aus der ersten Strophe. Christus kommt als Licht der Welt, um am Ende aller Zeiten das Dunkel des Todes zu erhellen. Daran darf ihn die ganze versammelte Gemeinde im Bittruf erinnern.

„Ach komm, ach komm, o Sonne, / und hol uns allzumal / zum ewgen Licht und Wonne / in deinen Freudensaal.“

Wir singen gemeinsam die Strophen 9+10

 

9. Was fragt ihr nach dem Schreien

der Feind und ihrer Tück?

Der Herr wird sie zerstreuen

in einem Augenblick.

Er kommt, er kommt, ein König,

dem wahrlich alle Feind

auf Erden viel zu wenig

zum Widerstande seind.

 

10. Er kommt zum Weltgerichte:

zum Fluch dem, der ihm flucht,

mit Gnad und süßem Lichte

dem, der ihn liebt und sucht.

Ach komm, ach komm, o Sonne,

und hol uns allzumal

zum ewgen Licht und Wonne

in deinen Freudensaal.

Text: Paul Gerhardt 1653

Melodie: Johann Crüger 1653