Motettenansprache

  • 18.03.2022
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am Freitag, 18. März 2022

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete. 37 Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. 38 Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir! 39 Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! 40 Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? 41 Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. 42 Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille! 43 Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. 44 Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte. 45 Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. 46 Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.

Matthäus 26,36ff

Liebe Motettengemeinde,

manchmal ging es mir in den letzten Tagen wie den Jüngern in Gethsemane: Ich hatte den Impuls, in den Schlaf zu flüchten. Mir die Decke über den Kopf zu ziehen und zu sagen: Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich kann sie kaum ertragen, die Bilder aus der Ukraine, möchte schon nicht mehr hinsehen. Die Bilder von den zerstörten Wohngebieten, die Gräber, dieser ganze sinnlose Irrsinn. Wir erleben das Böse in einer so übermächtigen Form, dass wir es kaum aushalten können. Es hilft uns, wenn wir etwas tun können. Den Leuten helfen, die kommen. Spenden, einige, auch aus unserer Gemeinde, fahren an die Grenze an die Westukraine, bringen Hilfsgüter hin und holen Leute ab. Viele Hunderte Leipziger haben Wohnungen und Zimmer angeboten, arbeiten stundenlang ehrenamtlich auf dem Hauptbahnhof oder sortieren Spenden, überlegen sich Aktionen so wie die Abiturienten des Thomanerchors, die am letzten Sonntag ein Benefizkonzert für Kiew initiiert haben. Viele haben mitgemacht, immerhin etwas über 10.000 Euro sind zusammengekommen. Aber immer hat man irgendwie das Gefühl, das reicht nicht. Es müsste doch irgendwie die Möglichkeit geben, Putin und den Seinen in den Arm zu fallen. Es macht uns hilflos, diese hemmungslose Gewalt zu erleben. Eine Kulturwissenschaftlerin aus der Ukraine hat am Sonntag bei dem Konzert hier gesprochen und hat uns hinterher erzählt, mit welcher Brutalität die russischen Soldaten vorgehen. Auch gegeneinander. Viele Verletzte werden erschossen von den eigenen Leuten, damit sie die anderen nicht behindern. Und wer aus der ersten Reihe ausschert läuft Gefahr, eine Kugel in den Rücken zu bekommen.

Was können wir tun? Sind wir wach genug? Es reißt uns hin und her. Ganz nah liegen sie beisammen, diese beiden Gesichter der Menschheit. Wozu Menschen fähig sind: zu größter Grausamkeit. Und zu Hilfsbereitschaft, die überwältigend ist. Hoffen wir, dass sie lange anhält. Dass sie nicht einschläft, dass wir nicht einschlafen und nachlassen, dass uns genug Kraft geschenkt ist, damit sie nicht so schnell und so leicht leichtes Spiel mit uns haben. Die Putin-Versteher. Sie sind still im Moment. Aber sie werden da sein, wenn die Probleme auftauchen, wenn der Zustand dauerhaft ist. Sind wir dann wach genug, an dem festzuhalten, was wir als gut und richtig erkannt haben? Und sind wir jetzt wach genug, mit der Mehrheit der Menschen guten Willens in Europa daran festzuhalten, dass das Recht sich durchsetzen muss – und nicht die Gewalt? Dass Diplomatie, Friedenspolitik und Gewaltlosigkeit keine Worte und Werte von gestern sind? Das sollten wir uns nicht einreden und nicht einreden lassen. Ja, es ist schwer auszuhalten, es mit jemandem zu tun zu haben, der keine Grenzen kennt, der keine Hemmungen hat, unvorstellbar gewalttätig zu sein und auf alles Menschliche pfeift. Wir haben eigentlich nichts in der Hand gegen solche Leute, die solch ein Regime von Angst, Schrecken und Lüge um sich herum aufgebaut haben. Was für einen unglaublichen Mut hat diese Mitarbeiterin des russischen Staatsfernsehens mit ihrem Protestschild in einer Live-Nachrichtensendung bewiesen. Ich wünschte, mindestens zehn Millionen Russinnen und Russen könnten aufstehen in ihrem Land zum Protest und wir würden Wege finden, sie zu unterstützen. Ein frommer Wunsch. Aber auch so etwas ist bereits schon wahr geworden. Ich finde jedenfalls, man kann sich nur wünschen, dass so etwas am Ende die Lösung wird, die zu einem Ende dieses Spuks führt.

„Ach, wollt Ihr weiter schlafen und ruhen?“, so fragt Jesus seine Jünger am Ende der Szene in Gethsemane. Die Frage bleibt offen. Weil sie offenbleiben muss. Sie will immer wieder und in jeder Zeit beantwortet werden. Auch von uns. Noch bevor die Jünger es in dieser Geschichte tun können, fordert Jesus sie allerdings auf, schon jetzt dem Unrecht entgegenzutreten. „Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.“  Jesus hat sich vorbereitet auf diesen Schritt. Hat sich Kraft aus seinem Gebet geholt, das aus Tränen, Klage und Verzweiflung bestand. Er hat all das aus sich herausgelassen im Garten Gethsemane. Es hat ihm geholfen, in sich zu der Ruhe zu finden, die ihn handlungsfähig macht. Auch wenn die Umstände sich nicht geändert haben. Möge uns dieser Abend heute in Musik, worten und Gebet dabei ebenfalls helfen. Amen.

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org