Motettenansprache

  • 30.10.2021
  • Pfarrer i.R. Christian Wolff

Motette am 30. Oktober 2021

Thomaskirche zu Leipzig

 

Thomas Tallis (1505-1585)

If ye love me

Motette für vierstimmigen Chor

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)

Du sollt Gott, deinen Herren, lieben

Kantate zum 13. Sonntag nach Trinitatis, BWV 77

 

Lesung

Lukas 10,25-37

 

Ansprache

 

ad fontes – zurück zu den Quellen. Das war zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Leitgedanke der Humanisten um Erasmus von Rotterdam und der Reformatoren um Martin Luther und Philipp Melanchthon: die Ursprünge unseres Daseins und Glaubens freilegen und alles, was sich an Schutt, Ballast, Glitzer, Glamour darüber geschichtet hatte, beiseite räumen. Das bedeutet auch heute Reformation, Erneuerung: die Menschen nicht mit frommen Sprüchen abspeisen und durch Riten benebeln, sondern auf das unverfälscht zurückgreifen, was Menschen seit Jahrhunderten Trost, Klarheit, Orientierung verschafft.

 

Die Musik ebnet dazu einen Weg – auch in dieser Motette. So erinnern uns die gehörten Chorstücke an die zentrale biblische Aussage: die Liebe zu Gott erweist im Halten der Gebote; und die Kantate erschließt uns einen der zentralen Texte unserer Bibel: das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Dieses wird eingeleitet mit einer uns heute fremd anmutenden Frage eines rechtschaffenen und frommen Menschen:

Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?

Mit dieser Frage will sich der Mann darüber Gewissheit verschaffen, was im Leben wirklich wichtig ist, worauf es ankommt.

 

Und worauf kommt es an? Heute, im Jahr 2021? Was müssen wir da tun - auch im Blick darauf, wie wir unser Leben vor den nächsten Generationen und schließlich vor Gott verantworten können? Leider können wir auf die Frage des frommen Mannes nicht mehr so unbefangen mit einer Gegenfrage reagieren, wie es Jesus noch vermochte:

Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?

Leider sind für viele Menschen diese Anknüpfungspunkte verschüttet bzw. sind ihnen abhandengekommen. Wir leben heute in einer weltanschaulich und religiös vielfältigen Gesellschaft, die ihren Wertecodex nicht so eindeutig zurückzuführen vermag auf das Fundament der Bibel. Das hat Folgen. Der Publizist Martin Hecht erkennt in seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht“ die ideologisch-religiöse Vereinsamung des Menschen als ein großes Problem:

Je mehr sich in der modernen individualistischen Gesellschaft Werte, Normen und Institutionen abschwächen, desto fragiler wird die innere Sozialordnung, und je mehr sich die Individuen von diesem Gerüst von wertgeleiteten Institutionen und Sozialbeziehungen herauslösen, desto gefährdeter sind sie in einem ganz und gar existentiellen Sinn. Ohne Grundformen sozialer Integration entsteht für den Einzelnen eine individuelle Haltlosigkeit, die er nicht kompensieren kann, weil er sich selbst nicht zu stützen vermag. (S. 167)

Damit ist die Aufgabe beschrieben, der wir uns als Kirche, der wir uns mit Gottesdiensten und Motetten, auch mit der Kirchenmusik in der säkularen Gesellschaft zu stellen haben: dem einzelnen Menschen Grundformen sozialer Integration anzubieten, ihn aus individueller Haltlosigkeit zu befreien durch das Freilegen der Quellen.

 

Jesus und der Mann wussten damals, wo sie ihren Konsens finden können: im Glauben an den einen Gott. Der Mann weiß also um die Quelle und antwortet auf die Gegenfrage Jesu

Was liest du?

mit einem Zitat aus dem hebräischen Teil unserer Bibel:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte (Verstand) und deinen Nächsten wie dich selbst.

Johann Sebastian Bach entfaltet dieses Doppelgebot der Liebe im Eingangschor der Kantate als Grundlage des Glaubens. Damit greift er die Aussage Jesu auf, wonach im Doppelgebot der Liebe die ganze biblische Botschaft zusammengefasst ist. Darum überlagert Bach den Eingangschor mit der von der Trompete gespielten Melodie des Luther-Liedes „Dies sind die heilgen zehn Gebot“ und lässt zwischen der Trompetenstimme und dem Continuobass einen groß angelegten Kanon entstehen. Dadurch soll das Umfassende des Doppelgebotes dargestellt werden. Zusätzlich lässt er die Trompete zehn Mal einsetzen. Das kann als Hinweis auf die Zehnzahl der Gebote gedeutet werden. Schließlich gliedern sich die dem Eingangschor folgenden Teile der Kantate so: Das erste Rezitativ-Arie-Paar ist der Gottesliebe, das zweite der Nächstenliebe zugeordnet.

 

Strittig ist eigentlich nichts zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten:

So muss es sein!

lässt Bach den Bass, also die Jesus-Stimme, auf den Eingangschor antworten. Bachs Kantate strahlt die Übereinstimmung aus, die zwischen Jesus und dem fragenden Mann besteht. Als Problem bleibt das übrig, was in der Alt-Arie zum Ausdruck gebracht wird:

Ach, es bleibt in meiner Liebe

lauter Unvollkommenheit.

Hab ich oftmals gleich den Willen,

was Gott saget zu erfüllen,

fehlt mir's doch an Möglichkeit.

 

Von dieser Unvollkommenheit handelt auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das Jesus zur Illustration des Doppelgebotes erzählt. Da wird die tätige Nächstenliebe durch den unter die Räuber gefallenen Mann herausgefordert. Doch weder der vorbeikommende Priester noch der Levit werden der Herausforderung gerecht. Sie unterbrechen ihren Weg nicht, um zu helfen. Erst der als gottlos geltende Samariter nimmt sich des übel zugerichteten Mannes an. Er begreift, worauf es wirklich ankommt: auf die tätige Liebe, durch die Gott uns mit dem Leben des unbekannten Nächsten, seiner Not, seinen Ängsten verbindet, ohne uns damit zu überfordern.

 

Als ob Bach das unterstreichen wollte, hat er über die Alt-Stimme in der erwähnten Arie kunstvoll die Trompete gesetzt. Sie vermittelt einen verheißungsvollen Kontrast zur verhaltenen Klage der Arie. Mir scheint, als wolle Bach uns Menschen damit vor lähmendem Selbstmitleid und Selbstentschuldigungen nach dem Motto „Wir können doch nicht die ganze Welt retten“ warnen und uns mit der Trompetenstimme an das Wort Jesu erinnern, mit dem dieser das Gespräch mit dem Schriftgelehrten beendet und allen Schutt und Schotter beseitigt:

Geh hin und tu desgleichen.

 

Dieses Wort schwingt auch mit, wenn mit dem letzten Akkord des Schlusschorals eine Art Doppelpunkt gesetzt wird. Das hört sich so an, als müssten weitere Strophen folgen. Doch die werden wir singen müssen - nachher, morgen, mit unseren, durch den Glauben geförderten Möglichkeiten:

Dass er sei tätig durch die Lieb

Mit Freuden und Geduld sich üb,

Dem Nächsten fort zu dienen.

 

Gebet

Gott, unser Vater,

wir danken dir für deine Liebe.

Mit ihr ebnest du uns den Weg zum Nächsten,

auch indem du uns ihn, den Feind,

in den Weg legst.

Wecke uns auf aus unserer Gedankenlosigkeit

und Gleichgültigkeit.

Lass uns durch die Gottes-

und Nächstenliebe das finden,

was wir suchen:

die Quelle für ein menschenwürdiges Leben.

So beten wir mit Jesu Worten:

Vater unser ...

 

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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