Motettenansprache

  • 01.04.2022
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Ansprache Motette 1. April 2022

Sie hielt es nicht mehr aus, hat Vera gesagt. Jede Nacht müssen sie in den Keller, in den Bunker. Immer hatten die Menschen Angst in Charkiw in der Ukraine. Angst um ihr Leben, um ihr Hab und Gut.

Sie hielt das nicht mehr aus. Vera Lytovchenko, eine junge Musikerin, wollte etwas Schönes machen. Darum zieht sie ihr bestes Abendkleid an, nimmt ihre Violine mit in den Keller und spielt dort unten bei Kerzenschein. Ganz innig spielt sie ein ukrainisches Volkslied. Die Menschen im Keller sind tief bewegt von der Schönheit des Klangs. Ihnen kommen die Tränen. Und Frau Lytovchenko sagt in einem Interview: „Wir sind in diesem Keller zu einer Familie geworden, und als ich spielte, weinten sie. Sie vergaßen für einige Momente den Krieg und dachten an etwas anderes.“

Genauso macht es in Lwiw ein kleiner Männerchor der kriegsbedingt geschlossenen Philharmonie. Der Tenor und Vizedirektor Petro Schwajkowskij sagt: „Natürlich gibt es Menschen, die finden, man müsse jetzt nicht musizieren, es sei ja Krieg…(aber) Wir denken, dass man jetzt gerade singen muss, um die Menschen innerlich aufzurichten oder auch nur, um sie auf andere Gedanken zu bringen.“ Und so singt er mit seinem kleinen Chor draußen auf den Straßen und Plätzen der Stadt Passionslieder von der Not auf Erden und der Gnade der Muttergottes. Und gerade haben sie den 180. Jahrestag Mykola Lyssenkos gefeiert, dem Begründer der ukrainischen Klassik und Komponist vieler Hymnen, den bekanntesten singt im Moment der Thomanerchor in jeder seiner Motetten und Gottesdienste. ..

Ja, Vera Lytovchenko und Petro Schwajkowskij wissen: Es gibt noch eine andere Welt in dieser Welt. Jesus nennt sie das Reich Gottes – die Welt der Fürsorge und der Kunst, des Zarten und Heilsamen. Da sind Menschen nicht gegeneinander eingestellt, sondern füreinander da. Mit leiser Musik, mit freundlichen Gesichtern und mit viel Verständnis – diesem Streicheln der Seele. Und dass Menschen das einfach machen, weil sie im anderen den Nächsten sehen, der braucht, was man selbst auch braucht. Manchmal ist es verrückt, dass uns gerade Not und Lebensgefahr zusammenrücken lassen.

Gerade erleben wir ja eher die brutale Seite der Welt. Und plötzlich ist das, was es schon immer gab in der Welt, bedrückend nahe. Ein Land zerstört und zerbombt sein Nachbarland – und wir können nur zutiefst hoffen: Hoffentlich werden die Brutalen und Bösen schon bald zur Rechenschaft gezogen. So ist mir heute Abend Felix Mendelssohns Vertonung des 43. Psalms besonders nahe, die wir gerade gehört haben. Dieser Aufschrei am Anfang: „Schaffe mir Recht, Gott“ bzw. „Richte mich, Gott, und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten! Denn du bist der Gott meiner Stärke, warum verstößest du mich? Warum lässest du mich so traurig gehn, wenn mein Feind mich drängt?“

Und dann wird auf einmal, als hätte man einen Schalter umgelegt, alles ganz anders: Strahlend, stark, zuversichtlich: „Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten zu deinem heiligen Berge und zu deiner Wohnung, dass ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist, und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott.“ Und am Ende ist es, als hätte der Beter wieder neue Kraft für seinen Alltag und da gerade für die schwereren Stunden: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott! Denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“

Was Vera Lytovchenko und Petro Schwajkowskij tun, das hat etwas von der Bewegung dieses Psalms. In, mit und unter der Musik verändert sich etwas in den Menschen – auch wenn sich an der äußeren Situation nichts verändert. Es macht sie mitten darin stärker für das, was es zu bestehen gilt. Selbst in einem dunklen, angstvollen Keller ist das möglich. So lassen auch wir heute uns all das, was wir an gesungenem Gebet und Segen heute hier hören, an uns heran. Es wird uns guttun, es wird uns aufrichten. Und es mag dazu führen, dass es auch unter uns etwas wärmer werden kann. Und da rede ich nicht von einer Wärme, die mit steigenden Energiepreisen zu tun hat und die jetzt vielleicht knapp wird. Sondern von einer, die wir vorrätig haben und mit der wir ruhig etwas verschwenderischer umgehen dürften. So wie Vera Lytovchenko und Petro Schwajkowskij. Amen.

Gebet

Unser Gott, am Ende dieser Woche kommen wir zu Dir mit unserem Schmerz, mit unserer Wut, mit unserer Hilflosigkeit. Wir bitten Dich: Hilf uns, dass wir uns nicht nur davon bestimmen lassen. Wandle all das in Tatkraft und gedankliche Besonnenheit. Lass uns sehen, was zu tun ist. Vor allem den anderen, die unsere Hilfe brauchen und vor allem unsere Wärme. Darum bitten wir Dich mit Jesu Worten: Vaterunser…

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org