Motettenansprache

  • 02.07.2022
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache zur Kantate BWV 21

„Ich hatte viel Bekümmernis“ vom  2. Juli 2022 

Der Text der Kantate lässt sich hier nachlesen: BWV 21 (ualberta.ca)

Liebe Motettengemeinde,

sanfte und weiche Töne nehmen zu Beginn der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ die Gefühle desjenigen auf, dessen Leben durcheinandergeraten ist. Klage braucht Raum zur Entfaltung und Melodie, um gehört zu werden. Auch ohne Text wird es kaum einen Hörer geben, dem nicht sofort klar ist: hier leidet jemand ganz tief in seiner Seele:

Ach, käme er doch zurück. Ach, könnten die verletzenden Worte unausgesprochen bleiben. Nun scheint alles aus zu sein. Wo ist die Liebe geblieben?

Hat sie sich wirklich in kaltherzigen Spott verwandelt?

Zu fest sind die Klauen von Gleichgültigkeit und gekränkte Eitelkeit. Bewegungsunfähig. Ungeliebt. Unglücklich.

„Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen.“

Die Hände zittern als er den Briefkasten öffnet.

Hastig wird die Post durchwühlt. Nicht schon wieder eine Mahnung. Doch alles Hoffen verflüchtigt sich.

Die Stromrechnung wirkt wie ein Stromschlag.

Hart ist die Realität. Das Geld ist alle, reicht nicht zum Leben und auch nicht zum Sterben. Fleiß und Tatkraft sind gegenwärtig kein Garant für ein würdiges Leben.

„Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen.“

Hoffentlich werden wir verschont. Angst pocht durch jede Ader. Ihr Pulsschlag ist im stillen Versteck zu hören. Die Tür kracht. Soldatenstiefel dröhnen. Höhnisches Gelächter. Gierige Hände greifen nach der Tochter. Schreie. Tränen. Schläge.

Die Bilder werden nie wieder aus verwundeter Mutter-Seele verschwinden. Sterben wäre jetzt eine Erlösung. Doch schon kommt der Nächste, zerreißt erst das Kleid und dann den Körper.

„Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen.“

 

Wie ein Blitz schlägt die Nachricht in das eigene Lebensglück. Plötzlich krank, ernsthaft krank, dem Tod geweiht. Alle Pläne zerfallen zu Staub. Gedanken kreisen nur noch um den nächsten Tag. Darüber reden? Das geht nicht, weil die Angst, dem Partner durch die Wahrheit Schmerzen zuzufügen, viel zu groß ist. Lieber lügend ausweichen und allen Kummer in die eigene Seele stopfen.

„Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen.“

Menschlicher Trost kommt hier an seine Grenzen.

Entgrenzt sind Trauer und Kummer. Sie mischen sich in den Tränenbach und lassen ihn zur reißenden Flut werden. 

Solche Grenzerfahrungen, liebe Motettengemeinde, brauchen ein starkes Gegengewicht.

„aber deine Tröstungen erquicken meine Seele“.

Rückblickend, ist da ein Hauch von Erinnerung an erfahrene Güte und es wächst ein zartes Hoffnungspflänzchen Trost. Doch seine Wirkung hält nur kurz an. Denn zu groß sind Zweifel und das Gefühl, von Gott verlassen zu sein.

„Ich ruf und schrei dir nach. Allein mein Weh und Ach!

Scheint jetzt, als sei es dir ganz unbewusst.“

Im aufgewühlten Tränenmeer drohen Mast und Anker zu brechen. Orientierung geht verloren. Es gibt nur eine Richtung – abwärts immer weiter und immer tiefer hinab in Leid und Schmerz. Das Weiterleben wird zur Hölle.

Einen tröstenden Versuch macht der Chor am Ende des ersten Teiles. „Was betrübst du dich meine Seele und bist so unruhig in mir?“

Auch hier ist die Wirkung noch nicht nachhaltig. Erinnerung an Bewahrung können hilfreich sein. Jedoch im großen Kummer und im tiefen Leid braucht es mehr. Es braucht die direkte Ansprache und die direkte Zuwendung dessen, der mir gleich geworden ist – es braucht das liebende Umfangen Jesu Christi.

Und so lässt das verwundete Herz die geschundene Seele sprechen. Ihre Worte bleiben nicht ohne Wirkung. Jesus antwortet selbst.

In tröstender und liebender Weise baut er eine Brücke über den Höllenschlund eines kaum zu ertragenden Alltags.

„Ja, ach ja, ich bin verloren!“

„Nein, ach nein, du bist erkoren.“

Und auch die gefühlte Lieblosigkeit wird verwandelt.

„Nein, ach nein, du hassest mich!“

„Ja, ach ja, ich liebe dich!“

Im innigen Dialog nähern sich Seele und Jesus und verschmelzen.

Vor dieser machtvollen Verbindung werden Kummer und Schmerzen auf lange Sicht nicht bestehen können.

Gott antwortet wieder. Er antwortet durch seinen Sohn. Mit Gnadenblick schaut er mich an und schenkt mir armen, elenden und gottesfernen Menschen seine Liebe. So wächst Vertrauen, dass sich Zukunft leben lässt, weil er mich in seiner Gnade leben lässt.

Meine Seufzer haben bei Gott eine gute Adresse. Seine Kraft vollendet sich in Schwachheit und wird sie aufheben.

Tränen werden noch viele geweint werden, bis wir den Reichtum der Herrlichkeit Gottes schauen.

Denn wir leben in einer unerlösten Welt, umgeben von Schrecken und Schrecklichkeiten, die wir uns Menschen auch gegenseitig antun.

So mancher Kummer, der uns über den Kopf wächst, löst sich aber rückschauend in der Weisheit Gottes auf.

Wer solche Wandlung aus großer Not erleben darf, wird von einem Christus erzählen können, dessen Stärke sich gerade im schwächsten Moment als tragfähig erwiesen hat. Das ist von anderer Qualität als ein banales, am Ende wird alles gut.

Denn Wunden werden bleiben und vernarben.

Sie werden jedoch nicht das letzte Wort haben. Deshalb: Ja, es wird gut werden, liebe Motettengemeinde. Es wird deshalb gut werden, weil das Lamm Gottes selbst durch Leid, Folter und Schmerzen, durch Gewalt und Tod gegangen ist.

Nun aber zieht das Agnus Dei triumphierend auf der Straße meines Lebens,

beschützt meine Seele,

heilt meine Schmerzen,

verwandelt meine Bekümmernis

und sagt allen lebensfeindlichen Mächten:

Dieses Menschenkind bekommt ihr nicht.

Denn es ist mein Schatz und meine Liebe und ich werde mit ihm ein großes Freudenfest feiern. Halleluja.

Gebet

Wir bitten Dich Gott um Beistand, wenn unsere Herzen Bekümmernis tragen.

Dabei denken wir heute besonders an die Menschen, die unter dem Krieg in der Ukraine leiden. Sei ihnen nahe und öffne uns die Augen für die notwendige Hilfe.

Wir danken Dir Gott für gute und schöne Momente in unserem Leben, wenn sich Klage in Freude verwandelt hat oder wir einander in Liebe begegnen konnten.

Wir bitten dich für uns selbst. Stärke unser Verantwortungsbewusstsein für ein Leben in Freiheit ohne auf Kosten anderer oder zukünftiger Menschen.

Wir bitten Dich, behüte alle, die jetzt in der Ferienzeit unterwegs sind. Segne die Reise des Thomanerchores in den kommenden Tagen.

Unausgesprochene Worte, Seufzer und Gedanken finden den Weg in Deine Worte, Herr Jesus Christus. Mit ihnen beten wir gemeinsam:

Vater unser im Himmel…

 

Pfarrer Martin Hundertmark, Thomaskirche zu Leipzig

hundertmark@thomaskirche.org