Motettenansprache

  • 02.04.2022
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Motette am 2. April 2022

Georg Friedrich Händel (1685–1759)

„Er weidet seine Herde“, Arie für Sopran aus dem Oratorium „Der Messias“, HWV 56 für vierstimmigen Chor bearbeitet von Beat Fritschi

Er weidet seine Herde getreulich wie ein Hirt, und trägt die jungen Lämmer gar sanft in seinem Arm. Er heget sie und nimmt sie liebend an sein Herz und leitet die Schwachen mit milder Hand. Kommt her zu ihm, die ihr mühselig seid, kommt her zu ihm, die ihr mit Last beladen, Erquickung reicht er dar. Nehmt auf euch sein Joch und lernt von ihm, denn er ist sanftmütig und tiefer Demut voll, so findet ihr Ruh’, der Seele Ruh’!

Liebe Gemeinde,

in der aktuellen Ausgabe des Magazins der Süddeutschen Zeitung fasst der Journalist Tobias Haberl unser Lebensgefühl in Deutschland folgendermaßen zusammen: „Im Moment fühlt es sich an, als befänden wir uns auf dem Rückflug von unserer Abenteuerreise in die Ungewissheit: Die Corona-Beschränkungen fallen, die Reisegruppe ist erschöpft, freut sich aber auf zu Hause. Manche Sitzplätze sind leer, was unsagbar traurig ist. Die Reise hat Verluste gefordert, aber auch für unvergessliche Momente der Menschlichkeit gesorgt, die es nur in Krisen geben kann, sie war anstrengend, aber auch lehrreich. Und gerade als wir die vertrauten Häuser unter uns sehen, die Äcker und Straßen mit den winzigen Autos drauf, dürfen wir nicht landen, wird unser Flieger noch mal umgeleitet, wegen dieses Krieges, den sich lange niemand vorstellen konnte. Seitdem kreisen wir im Luftraum und fragen uns, wann wir endlich nach Hause dürfen, zurück in die Normalität, nach der wir uns so sehnen, aber von der nicht klar ist, ob es sie überhaupt noch gibt.“ (SZ-Magazin Nr. 12, S. 17)

Ich finde, das ist ein interessantes Bild. Ich würde es am Ende noch ergänzen wollen und fragen, ob es diese ersehnte „Normalität“ überhaupt jemals gab. „Was wir zwei Corona-Jahre lang als Jahrhundertkatastrophe wahrgenommen haben, ist für Milliarden Menschen auf der Welt Alltag. Das Gefühl permanenter Bedrohung und Unfreiheit, die Atmosphäre ständiger Unsicherheit, die Unmöglichkeit, längerfristig zu planen, die dauernde Gefahr, schwer zu erkranken oder zu sterben, Krankenhäuser, in denen es nicht genug oder keine Intensivbetten gibt, Regierungen, die überfordert sind … Kinder, die nicht in die Schule gehen können, aber leider kein Notebook für den Fernunterreicht haben und die auf der anderen Seite ja sowieso bei der Maniok-Ernte helfen müssen.“ (SZ-Magazin, S. 14)

Wir haben quasi in diese Art von Normalität Einblick bekommen. Und was „unsere“ herbeigesehnte Normalität betrifft – ich verstehe nicht ganz, wieso man sagen kann, wir wären mit dem Überfall Putins auf die Ukraine plötzlich in einer anderen Welt aufgewacht. Aufgewacht sind wir vielleicht in dem, wie wir die Welt sehen. Krisen und Kriege gab es auch in den vergangenen Jahren in Jemen, in Afghanistan und Syrien. Wir waren nur wahnsinnig gut darin, uns kaum für sie zu interessieren. Aber das Böse hört nie auf, seine Kräfte zu sammeln, während wir Dinge nicht wahrhaben wollen. Früher oder später passiert aber immer, was man nicht für möglich gehalten hat und dann steht man da, reibt sich die Augen und spürt, wie verblendet man war, man spürt, wie gnadenlos Geschichte sein kann und wie zerbrechlich das Glück. Aber man spürt auch die historische Möglichkeit, ein paar Weichen neu zu stellen.

Also lieber doch nicht landen in der ersehnten Normalität, sondern jetzt lieber durchstarten und das ganze Flugzeug wieder hochwuchten und gucken, was dran ist und welche Art von Normalität wir denn ansteuern sollten? Was soll da eine Rolle spielen, was wäre da wichtig?

Wenn man dieses Bild für sich wählen sollte, dann könnte m.E. der Text des eben gehörten Werks von Georg Friedrich Händel helfen aus seinem Oratorium „Der Messias“. In dieser ursprünglichen Sopran-Arie werden zwei biblische Texte zusammengebracht, die vielen Menschen auch außerhalb von Kirche recht vertraut sind. Der 23. Psalm mit seinem Bild vom guten Hirten, der dafür sorgt, dass uns nichts mangeln wird. Da heißt es zu Beginn:

„Er weidet seine Herde getreulich wie ein Hirt, und trägt die jungen Lämmer gar sanft in seinem Arm. Er heget sie und nimmt sie liebend an sein Herz und leitet die Schwachen mit milder Hand.“

Und der zweite Text ist der sog. Heilandsruf Jesu, der bei Händel etwas abgewandelt so klingt: „Kommt her zu ihm, die ihr mühselig seid, kommt her zu ihm, die ihr mit Last beladen, Erquickung reicht er dar. Nehmt auf euch sein Joch und lernt von ihm, denn er ist sanftmütig und tiefer Demut voll, so findet ihr Ruh’, der Seele Ruh’!“

Was mir an der Zusammenfügung dieser Texte gut gefällt: Wir können nur dann wirklich Vertrauen entwickeln, wenn wir auch das Joch bzw. das Kreuz in unserem Leben ernst nehmen und es an die rechte Stelle rücken. Jesus hat seine Jünger immer dann angefahren oder angeblafft, wenn die ihm seinen Weg nach Jerusalem ins Leid und ans Kreuz ausreden wollten. „Ihr habt es nicht begriffen.“ Wer das Kreuz besiegen will, wer Tod, Krankheit und Leid den letzten Anspruch über sein Leben entreißen will, der muss sich ihm stellen und muss es überwinden. Jesus hat das getan: In Liebe gegenüber denen, die ihn im Stich gelassen hatten, weil sie zu großmäulig daher kamen wie Petrus. In Geduld und Nachsicht mit denen, die sich über ihn lustig gemacht haben, während er mit dem Tod rang: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Und im Verzicht auf Gewalt, mit der alles hätte ändern können, an einer Stelle spricht er ja von den mehr den „12 Legionen Engeln“, die ihm sein Vater hätte schicken können. Aber er hat das Kreuz angenommen auf dem Weg zu neuem Leben, weil es nur so überwunden werden konnte. Eben mit anderen Mitteln als den „Normalen“…

Wenn wir von ihm, Jesus, nun lernen sollen in Sachen Kreuz und Joch im eigenen Leben, dann kann das konkret sehr viel bedeuten und möglicherweise wird uns all das helfen, für die gigantischen Herausforderungen der nächsten Jahre zumindest ansatzweise gewappnet zu sein. Dass wir verstehen: Wir brauchen nicht nur mehr Windräder und Gesundheitsämter ohne Faxgeräte, sondern wir brauchen mehr innere Stärke, sollten fähiger werden im Umgang mit Niederlagen, „resilienter“, wie die Fachleute sagen. Dass wir weniger dünnhäutig, dauerbeleidigt, krisenfester, widerstandsfähiger, souveräner werden im Umgang mit den Dingen, wie sie nun mal sind. Und unser Gefühl dafür schärfen, welcher Grad an Reibungslosigkeit uns im Leben eigentlich zusteht, was wir vom Leben erwarten und was wir nur erhoffen können, worüber wir uns empören und wofür wir einfach nur dankbar sein sollten. Die Politik ist nicht dafür verantwortlich, uns die geeigneten Rahmenbedingungen für unser persönliches Glück zur Verfügung stellen. Das müssen wir schon selbst schaffen. Und vielleicht suchen wir da mal mehr in unserem Inneren als in der permanenten Steigerung unserer Ansprüche. Voltaire hat mal geschrieben: „Wer seine Wünsche zähmt, ist immer reich.“ Oder findet, wie es bei Händel am Ende heißt, seiner „Seele Ruh…“Amen.

Gebet

Unser Gott, so viel ist geschehen in dieser Woche. Wir sind hier mit all dem, wofür wir zu danken haben. Aber wir sind auch hier mit nde unserem Schmerz, mit unserer Wut, mit unserer Hilflosigkeit. Wir bitten Dich: Hilf uns, dass wir uns nicht nur davon bestimmen lassen. Wandle all das in Tatkraft und gedankliche Besonnenheit. Lass uns sehen, was zu tun ist. Vor allem den anderen, der unsere Hilfe braucht und vor allem unsere Wärme. Darum bitten wir Dich mit Jesu Worten: Vaterunser…

Britta Taddiken, Pfarrerin an der Thomaskirche, taddiken@thomaskirche.org