Motettenansprache

  • 27.09.2019
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Liebe Motettengemeinde,

 menschliche Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche brauchen oftmals eine Projektionsfläche. Schon sehr früh in der christlichen Glaubensgeschichte haben sich Engel als eine solche erwiesen. Dabei konnten unsere Mütter und Väter im Glauben an die jüdische Tradition mit ihren zahlreichen Geschichten aus der Tora anknüpfen. Dort begegneten ihnen Engel oft als schützende Boten Gottes. Mal schützt er als Cherubin das Paradies und an anderer Stelle greift der Engel des Herrn ein, um Abraham vor einem Unglück zu bewahren. Der „Angelus“ des Neuen Testamentes entspricht in vielerlei Hinsicht mit seinen Eigenschaften dem „Maleach“ des Alten Testamentes. Beide Worte lassen sich mit „Boten“ im Sinne eines göttlichen Boten übersetzen. Engel werden also von Gott geschickt, sind ihm als himmlische Wesen untergeordnet und erfüllen einen Auftrag Gottes.

In den Motetten und Gottesdiensten dieses Wochenendes widmen wir uns in Musik und Texten dem Thema „Engel“, ist doch der kommende Sonntag liturgisch dem Erzengel Michael gewidmet.

Eben hörten wir Felix Mendelssohns Vertonung aus Psalm 91, die vielen Menschen aus dem Oratorium „Elias“ bekannt ist.

„Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allendeinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“

Psalm 91.11

 Engel und Romantik lassen sich kaum auseinanderhalten. Mendelssohn hat mit seiner wunderbaren Vertonung dazu einen gehörigen Beitrag geleistet.

Und da sind wir wieder bei den Eingangsworten, bei unseren Sehnsüchten und Hoffnungen. Welcher Vater, welche Mutter wünscht seinem bzw. ihrem Kind nicht die Engel zur Seite? Dort, wo wir als verantwortliche Eltern nicht mehr eingreifen können, brauchen wir die Vorstellung, ein Schutzengel tritt an unsere Stelle. Diese Vorstellung wirkt beruhigend. Da helfen auch alle Aufklärung und alles Reflektieren des Verstandes nicht. Wenn es um die eigenen kleinen und großen Kinder geht, werden wir Eltern sehr sensibel. Von daher ist es verständlich, dass Psalm 91.11 immer noch einer der beliebtesten Taufsprüche ist, den Eltern für ihr Kind auswählen.

Mancher mag darüber lächeln.

 Bei genauer Betrachtung kommt man aber zu einem anderen Ergebnis. Denn Psalm 91 drückt die Glaubenserfahrung einer umfassenden Bewahrung des Beters durch Gott aus. So spricht er davon in vielen uns eindrücklichen Bildern. Gott ist die feste Burg oder der Retter aus den Verstrickungen unseres Alltags. Wo Albträume den Nachtschlaf rauben, beschirmt uns Gott und unter seinem Schirm und seinem Schatten finden wir Zuflucht. Es lohnt sich, Psalm 91 einmal ganz zu lesen, liebe Motettengemeinde.

Die Boten Gottes vermitteln seinen Beistand, stärken Menschen auch in widrigen Situationen, standfest zu bleiben. Jahrhunderte alt sind solche Glaubenserfahrungen zu einem großen Schatz geworden. Dankbar können wir sein für die vielfältige Musik, die diese Glaubensschätze zum Leuchten bringt.

Ohne Zweifel haben die biblischen und außerbiblischen Bildbeschreibungen von den geflügelten Wesen unsere Kultur- und Kunstgeschichte enorm beeinflusst. Engel ohne Flügel sind kaum vorstellbar. Schauen wir aus evangelisch-lutherischer Perspektive auf das Engelthema und verknüpfen es mit der Lehre vom geschenkten Glauben und den daraus entstehenden guten Werken aus Früchte solchen Glaubens, so ergibt sich auf der anderen Seite ein zweiter Aspekt. Gott kann jeden seiner Menschenkinder zum Engel, zum tätigen und schützenden Boten seiner Liebe machen.

Rudolf Otto Wiemer fasst dies in folgende Worte:

Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.

Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
manchmal sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.

Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.

Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.

Dem Hungernden hat er das Brot gebracht,
der Engel.

Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
er hört, wenn du rufst, in der Nacht,
der Engel.

Er steht im Weg, und der sagt: Nein,
der Engel.

Groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein –
Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.

Bitten wir also Gott darum, dass er sich stets aufs Neue Engel aus unserer Mitte aussucht, die zur Seite stehen, die uns stützen und auch das „Nein“ sagen, wenn unsere Wege in den Abgrund zu führen drohen.

Amen.

Pfarrer Martin Hundertmark, hundertmark@thomaskirche.org