Motettenansprache

  • 19.01.2024
  • Pfarrer Lüder Laskowski

Ansprache zu Johannes Weyrauch (1897–1977)

Herr Christ, der einig Gotts Sohn (Christi Gespräch mit Nikodemus)

für 4–6stimmigen Chor (1950) WeyWV 44 nach Johannes 3,1-16

 

Liebe Motettengemeinde,

Zwei sitzen am Küchentisch. Draußen ist es lange dunkel und sie haben das Gefühl für den Fluss der Zeit verloren, könnten nicht sagen, wie spät es bereits ist. Zwischen ihnen flackert eine Kerze. Die Weingläser sind fast leer. Da fragt der eine den anderen: „Wie wäre das, wenn du noch einmal neu anfangen könntest in deinem Leben?“ Sein Gegenüber schaut andächtig in den dunklen Wein am Boden seines Glases. Leicht dreht er den dünnen Stiel zwischen seinen Fingern hin und her. Die tiefrote Flüssigkeit bleibt dennoch fast still stehen. Nur am Rand bilden sich Schlieren. „Weißt du“, hebt er an. „Da gab es einige Weichen, die ich hätte anders nehmen sollen.“ Dann erzählt er von entscheidenden Momenten in seinem Leben. Bevor ein langes Schweigen einsetzt, lautet sein letzter Satz: „Ich glaube nicht, dass sich deine Frage jetzt noch lohnt.“

Haben Sie die leichte Verschiebung gehört? Der eine fragt nach neuem Leben. Der andere erzählt von den Fehlern seines alten Lebens. Die beiden reden aneinander vorbei. Diese kleine Verschiebung wiegt schwer. Wir spüren es dem letzten Satz vor dem großen Schweigen ab. Neues Leben schließt der andere aus, weil ihn seine Erfahrungen lehren, dass kein Mensch ungeschehen machen kann, was vorbei ist. Der andere aber legt seine Frage gegen alle Erfahrung dennoch auf den Küchentisch.

In der unterschiedlichen Wahrnehmung der beiden könnte man das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus gespiegelt sehen. Wir haben es eben als Evangelium in der Vertonung von Johannes Weyrauch gehört. Auch dieses Gespräch wird in tiefer Nacht geführt. Als alles still rundum ist, das Blut in den eigenen Ohren rauscht, die Zeit stehenbleibt. Nikodemus, ein reifer, weiser, angesehener Mann, einer der sein Leben lang um den rechten Weg gerungen hat, gleicht ab. Er hält inne. Für einen Augenblick traut er sich und sagt sich nicht: „Jetzt ist es sowieso zu spät. Das Leben ist gelebt.“ Wie damals in seiner Jugend fragt er sich ganz neu: Wie geht es denn nun weiter? Wer werde ich sein, da ich Verantwortung für mich selbst übernehmen soll? Antwort darauf sucht er bei Jesus. Jesus, so spürt er, lebt in tiefer Verbindung mit Gott. Wenn er gute Antworten findet, dann mit Gottes Hilfe, dann hier.

Und Jesus spricht vom Geist. Er, so sagt er, ist es, der dem Menschen immer wieder die Kraft gibt, sich diese Fragen ganz unabhängig von Alter oder Lebenslage zu stellen. Der Geist gibt die Hoffnung, solche Fragen seien niemals vergeblich, ihre Zeit sei niemals vorbei. Das sagt Jesus in einem Bild. Er spricht von der neuen Geburt, von der Wiedergeburt, die der Geist möglich macht.

Nikodemus sieht dieses Bild ganz naturalistisch vor sich. Die Geburt kennt nur den einen unumkehrbaren Weg hinein in die Welt. Es ist doch gar nicht vorstellbar, dass ein Mensch je zurückkriecht in den Schoß der Mutter, zurück an den Anfang. Auch wenn die Sehnsucht nach Erlösung leicht verbunden ist mit der Vorstellung einer Rückkehr an die Quelle des Lebens. An einen geheimnisumwitterten reinen unmittelbaren Anfang. Jesus nimmt diese Vorstellung und setzt sie hinaus in die Welt. Die Erfüllung liegt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart – denn da weht der Geist, der belebt, der beseelt und der leichter macht, der die Erlösung genau jetzt schenkt.

Dieser Geist hebt auf. Er trägt hinaus über die tiefen Schlünde und Risse, die sich auf dieser Erde auftun. Es ist der Geist Gottes, der in die Freiheit führt. Durch ihn ist das Reich Gottes nichts fernes, ungreifbares. Nicht in der Vergangenheit versunken – womit wir befreit sind von dem Versuch, die vermeintliche gute alte Zeit in die Gegenwart zu zwingen. Durch diesen Geist ist das Reich Gottes auch nicht in die ferne Zukunft verlegt – als ständige Vertröstung auf ein besseres Morgen, das uns alles Leid in der Gegenwart erträglicher macht. Dieser Geist setzt die Gegenwart in ihr volles Recht ein. Jetzt schenkt er die Freude am Reichtum den uns die Erde gibt.

Jesus lehrt Nikodemus dort in der tiefen Nacht, dass der menschliche Geist einfach zu wenig ist. Ja, er kann planen und berechnen. Er kann auszirkeln und taktieren. Er kann Macht ausbalancieren und pragmatische Lösungen hervorbringen. Aber das alles ist zu wenig. Wir merken es ja in den Verwerfungen unserer Zeit, den Verwirrungen und Ängsten, der Gewalt und den fortlaufenden Schmerzen, die Menschen einander zufügen. So ist unser Mühen umsonst. Ohne den Geist, von dem Jesus spricht, bleibt es Nacht.

Nikodemus sucht nach etwas, das herausführt aus diesem Dunkel. Er sucht nach etwas Neuem. Und er hat in Jesus einen hervorragenden Lehrer gefunden. Der zeigt ihm, was es heißt, neu geboren zu werden durch diesen Geist. In Jesus wird sichtbar, wie dieser Geist Raum gewinnt. Durch ihn stirbt der alte Mensch, der Mensch, der nicht aus sich herausfindet, der sein Leben verspielt, weil er Gott vergisst. „Alt“ meint hier einen Menschen, der nichts mehr erwartet. Nicht von sich selbst noch von anderen. Gleich gar nicht von Gott seinem Schöpfer. Wer in diesem Sinne alt ist, vermag sich selbst wie anderen keine Anerkennung mehr zu geben. Und wer soweit ist, der verliert auch seine Offenheit, sein Interesse am anderen. Als neuer Mensch aber begegnet ihm Jesus, der sich hingibt und damit das Leben gewinnt.

Nicht ohne Grund hat Johannes Weyrauch dieses Nachtgespräch in seiner Vertonung in zwei alte Choralstrophen gerahmt, die er einem Weihnachtslied entnahm. In tiefster Nacht ist Gott erschienen und lässt in Jesus seinen Geist schimmern wie es der Morgenstern am schwarzen Nachthimmel tut.

Nikodemus leidet an der Vergeblichkeit in der Welt. Und dieses Gefühl schlägt durch bis in die Sicht auf sein eigenes Leben. Er leidet damit auch an den verpassten Gelegenheiten im eigenen Leben. Jesus lehrt ihn, dass Gottes Geist neu macht, dass er in ihm neu geboren wird. Als so neu Geborener findet er wieder zurück in die Bestimmung, die ihm sein Schöpfer mit auf den Weg gab. So gehorcht er nicht der Angst und verkriecht sich nicht. Sondern er steht jetzt auf, bricht auf im Vertrauen. Er tritt in den kommenden Tag hinaus, spürt, dass das Licht unseres Schöpfers, das ewige Licht, sich in ihm fangen will.

Und was tun mittlerweile die beiden, die wir am Anfang beobachtet haben. Sie sitzen immer noch am Küchentisch. Der ursprünglich gefragt hatte: „Wie wäre das, wenn du noch einmal von vorn anfangen könntest mit deinem Leben?“ schüttelt jetzt nach langem Schweigen den Kopf. Er stellt sein Glas beiseite und schiebt seine Hand über den Tisch. Legt sie auf den Arm des Anderen, der überrascht aufblickt. „Weißt du“, sagt er, „Erkenne diese Nacht als die erste in deinem neuen Leben.“

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

 

Pfarrer Lüder Laskowski