Motettenansprache am 21. und 22. Januar 2022

  • 22.01.2022
  • Pfarrerin Britta Taddiken
Motette am 21. und 22. Januar 2022

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Jesu, meine Freude (BWV 227)

 

1. Choral: Jesu, meine Freude, / meines Herzens Weide, / Jesu, meine Zier, / ach wie lang, ach lange / ist dem Herzen bange, / und verlangt nach dir! / Gottes Lamm, mein Bräutigam, / außer dir soll mir auf Er[1]den / nichts sonst Liebers werden.

2. Chor: Es ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist.

3. Choral: Unter deinem Schirmen / bin ich vor den Stürmen / aller Feinde frei. / Lass den Satan wittern, / lass den Feind erbittern, / mir steht Jesus bei. / Ob es itzt gleich kracht und blitzt, / ob gleich Sünd und Hölle schrecken: / Jesus will mich decken.

4. Terzett: Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig machet in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

 5. Choral: Trotz dem alten Drachen, / Trotz des Todes Rachen, / Trotz der Furcht dazu! / Tobe, Welt, und springe, / ich steh hier und singe / in gar sichrer Ruh. / Gottes Macht hält mich in acht; / Erd und Abgrund muss verstummen, / ob sie noch so brummen.

6. Fuge: lhr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnet. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.

7. Choral Weg mit allen Schätzen! / Du bist mein Ergötzen, / Jesu, meine Lust! / Weg, ihr eitlen Ehren, / ich mag euch nicht hören, / bleibt mir unbewusst! / Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod / soll mich, ob ich viel muss leiden, / nicht von Jesu scheiden.

8. Terzett: So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen; der Geist aber ist das Leben um der Gerechtigkeit willen.

9. Choral Gute Nacht, o Wesen, / das die Welt erlesen, / mir gefällst du nicht! / Gute Nacht, ihr Sünden, / bleibet weit dahinten, / kommt nicht mehr ans Licht! / Gute Nacht, du Stolz und Pracht! / Dir sei ganz, du Lasterleben, / gute Nacht gegeben.

10. Chor So nun der Geist des, der Jesum von den Toten auferwecket hat, in euch wohnet, so wird auch der[1]selbige, der Christum von den Toten auferwecket hat, eure sterbliche Leiber lebendig machen, um des willen, dass sein Geist in euch wohnet.

11. Choral: Weicht, ihr Trauergeister, / denn mein Freudenmeister, / Jesus, tritt herein. / Denen, die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein. / Duld ich schon hier Spott und Hohn, / dennoch bleibst du auch im Leide, / Jesu, meine Freude.

 

Liebe Gemeinde,

„Jesu, meine Freude“. Das sind die ersten Worte in der Motette von J.S. Bach, die wir gleich hören. Es sind die ersten und es sind auch die letzten. Und dazwischen tobt das Leben. Es „kracht und blitzt“, der Satan wettert, die Feinde toben und der Tod tut seinen Rachen auf. Die Welt ist außer Rand und Band, die Erde bebt und bebt und kommt nicht zur Ruhe.

All das hat die Menschen zu Bachs Zeiten in Unruhe versetzt. Und uns heute auch, auf allen Ebenen werden wir durchgerüttelt von einer  Pandemie und lernen erst nach und nach damit zu leben. Es tobt in und bei uns: Wir haben zu tun mit einem Kontrollverlust auf vielen Ebenen und natürlich sind auch manche Themen nach oben gespült worden, denen wir uns dringend stärker widmen müssen, Bildung, Klimaschutz usw. Wissen wir ja eigentlich auch. Aber es ist    erstaunlich, wie resistent wir Menschen gegenüber besserem Wissen sein können. Das beginnt bei uns selbst. In Vielem wissen wir  genau, was uns gut tut und was wir tun und lassen sollten - und machen es dann doch anders. Verfallen immer wieder in die alten Handlungsmuster. Sind wir zu faul, zu bequem, zu willensschwach?

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, schreibt zu diesem Phänomen folgendes: „Die schmerzhafteste und bedrückendste Paradoxie der Gegenwart, dies lässt sich inmitten der pandemischen Tristesse und nach jahrzehntelangen Bemühungen um eine effektive Klimapolitik sagen, besteht darin, dass wir genug wissen, aber nicht vorausschauend handeln. Ja, wir konnten wissen, dass die vierte Welle mit Wucht zuschlagen würde. Wir konnten wissen, dass die obszöne Ungerechtigkeit der Impfstoffverteilung immer neue, potenziell gefährlicherer und ansteckendere Mutationen hervorbringen würde. Und wir wissen auch, dass Artensterben und Klimawandel das Ende des fossilen Zeitalters und einen Abschied von der Wachstumsideologie verlangen. Alles bekannt. Aber wir handeln nicht wirklich danach. Warum nicht? Evolutionsbiologen vertreten die These, dass das Uraltgehirn des Menschen, programmiert auf die sichtbare Ad-hoc-Gefahr in nächster Nähe, schuld sei. Psychologen weisen nach, in welchem Maße Filter- und Verzerrungsmechanismen Illusionen und Irrtümer begünstigen und zur Verdrängung eines gegenwärtigen und künftigen Schreckens taugen. Soziologen führen vor, dass die Teilsysteme der Gesellschaft Politik, Wirtschaft und Medien die Realität strikt nach ihren eigenen, rein internen Regeln verarbeiten, also nur begrenzt für äußere Wahrnehmungen empfänglich sind. Und Philosophen… erklären, Pandemie und Klimakatastrophe seien sogenannte Hyperobjekte – Phänomene und Krisen, die allgegenwärtig sind, total präsent, aber doch absolut unvorstellbar.“ (DER SPIEGEL Nr. 3/2022, S. 50)

Soweit Bernhard Pörksen. Es ist so, als ob da bei uns ein unsichtbares Gesetz wirkt, vor dessen Urgewalten man immer auf der Hut sein muss. Genau diese Vorstellung jedenfalls liegt den Bibelworten von Bachs Motette zugrunde. Es sind Worte aus dem Römerbrief und ihr Verfasser, der Apostel Paulus, versucht, für dieses Phänomen in unserer Gesellschaft und in uns selbst eine theologische Erklärung zu finden. Er spricht davon, dass im Menschen das „Gesetz des Fleisches“ immer im Streit ist mit dem „Gesetz des Geistes“. Diesen Streit erleben wir in Bachs Motette musikalisch. Fleischlich ist nach Paulus der Mensch, sofern er auf sich allein gestellt lebt und wirkt und sich selbst darin genug ist. Geistlich ist der Mensch dagegen, wenn er sich mit Haut und Haar, mit Leib und Seele der schöpferischen Kraft Gottes anvertraut, die mit der Auferweckung des gekreuzigten Christus zur Wirkung gekommen ist. Wie Gott Christus, der sein Leben für die Menschen hingegeben hat, vom Tode auferweckt und darin seine Liebe zu den Verlorenen zum Sieg gebracht hat, so geht diese Kraft der Liebe in jeden Christen ein, dessen Geschick in der Taufe mit dem Geschick Christi verbunden worden ist.

Das Gesetz des Geistes ist die andere Kraft, die in uns wirkt. Und auch wenn das Gesetz des Fleisches in uns noch so nachwirkt, dass es unser Innerstes gewaltig beben und schwanken lassen kann, steht fest: sie ist die stärkere. Sie ist stärker als der Tod. Und deswegen sollen wir dieser Lebenskraft in uns vertrauen. Wir sollen sie in uns „wohnen“ lassen, wie es in der Motette heißt. Denn diese schöpferische Kraft Gottes wird auch uns einmal dem Tode entreißen Und schon jetzt vermag sie uns aufzurichten, wenn wir an unserem menschlichen Unvermögen scheitern und verzweifeln wollen. Und schon jetzt ist sie es, die uns dort, wo wir erschüttert sind, wieder sagen lassen kann: „Weicht, ihr Trauergeister“.

Die fünfstimmige Fuge genau in der Mitte der Motette schärft es einem in unzähligen Wiederholungen dann auch geradezu ein: „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich“. Sprich: So sorgt nun auch dafür, dass ihr Euch von diesem Geist bestimmen lasst, der lebendig macht. Der einen ins Leben zurückruft, der einen fähig macht, weiter zu gehen, weiter zu machen mit neuer Kraft.  Das Fugenthema lässt davon schon etwas erkennen, wenn bei dem Wort „geistlich“ Bewegung in die Musik kommt. Da geht es voran in bewegten, belebten Sechzehntelnoten nach dem unbeweglich wirkenden und irgendwie auf der Stelle stehenden Anfang: „Ihr aber seid nicht fleischlich“, der das nur auf den Moment setzende und bei sich selbst verharrende Gesetz des Fleisches andeuten mag.

Auch wenn noch vieles von ihm noch in uns stecken mag – wir sind nicht dazu verurteilt, nach ihm zu leben. So lässt sich auch das beflügelnde Ende von Bachs Motette verstehen, das wie ein großes „Dennoch“ klingt: Weicht, ihr Trauergeister, / denn mein Freudenmeister, / Jesus, tritt herein. / Denen, die Gott lieben, / muss auch ihr Betrüben / lauter Zucker sein. / Duld ich schon hier Spott und Hohn, / dennoch bleibst du auch im Leide, / Jesu, meine Freude.

Gebet

Unser Gott, am Ende einer Woche kommen wir zu Dir mit allem, was wir erlebt haben. Wir danken Dir für alle Freude und für alle guten Begegnungen, die wir gehabt haben. Wir danken Dir für alle Impulse, die wir daraus bekommen haben und die wir mitnehmen. Manches hat uns aber auch verunsichert – und manche Begegnung mit anderen hat uns auch ratlos gemacht. Wir bitten Dich um offene Herzen und Sinne, dass wir zum Guten für alle weiterkommen können. Hilf uns, dass wir uns immer wieder auf das konzentrieren können, was uns trägt und voranbringt. Mach uns wachsam dafür, dass es uns im Betrieb und Lärm unseres Alltags nicht untergeht. Sei Du mit deinem Heiligen Geist in unserer Mitte, hilf uns, zu uns selbst, zu den anderen und zu Dir zu kommen. Im Vertrauen auf Deine Barmherzigkeit beten wir gemeinsam mit den Worten Jesu: Vaterunser… 

 

Britta Taddiken

Pfarrerin an der Thomaskirche

taddiken@thomaskirche.org