Motettenansprache

  • 03.11.2023
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache am 3.11.2023, St. Thomas zu Leipzig um 18 Uhr

 

Liebe Motettengemeinde,

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir. Herr, höre meine Stimme.“

In der Vertonung des 130. Psalms von Heinrich Kaminski, die wir eben hörten, wendet sich die verzagte Seele hoffend an Gott. Sie hofft auf Erlösung. Und sie hofft auf ein Ende der sie in die Tiefe ziehenden Kräfte, die alles bestimmen wollen.

Im biblischen Kontext, besonders im Buch der Psalmen finden wir die „Tiefe“ als ein Bild für die menschliche Existenz. Dabei wird Tiefe gerne mit Finsternis gleichgesetzt. Rufen wir uns Psalm 23 ins Gedächtnis „und ob ich schon wanderte im finstren Tal“ oder den nicht so geläufigen Psalm 69 „ich versinke im Tiefen Schlamm“. Auch der Prophet Jona weiß von der Tiefe mitten im Meer zu berichten, in die er geworfen wird. Besonders in Notzeiten und in verunsicherter Gegenwart erleben sich Menschen als haltlose Geschöpfe, denen sowohl Orientierung fehlt, wie auch der feste Grund unter den Füßen, damit man eben nicht hin- und hergeworfen wird.

Sorgen quälen uns. Ängste bedrücken den Alltag. Neben die Zukunftsangst gesellt sich schnell die Angst, lieb gewordene Menschen oder Dinge zu verlieren. Es entsteht ein Gemisch mit unglaublicher Dynamik, ein uns immer weiter abwärts führender Strudel. So ist es manchmal, liebe Motettengemeinde. Dem Gegenüber steht in den Psalmen der in der Höhe thronende Gott. Ihm dient das Himmelszelt als Kleid. Er ist über all die Dinge erhaben, die unsere menschliche Angst ausmachen.

Die menschliche Tiefe auf der einen Seite und die göttliche Höhe auf der anderen. Der Abstand könnte kaum größer sein. Wie kann er überwunden werden? Kann er überhaupt überwunden werden?

Zweifach will ich versuchen, auf die Frage zu antworten. Zunächst innerhalb der Psalmen und damit innerhalb des Alten Testamentes. Gott schenkt uns als Brücke zu ihm das Gebet. Es kann leise im Herzen gesprochen werden oder laut gesungen, manchmal muss man auch schreien, auch wenn Gott keine verstopften Ohren hat und selbst das undeutliche Wimmern oder der Stoßseufzer reichen schon aus, um vor Gott zu bringen, was uns bedrückt. Gott wendet sich nach unten. Er wendet sich hin zu mir. So hört er auf die in der Tiefe verhaftete Stimme. Der Beter wiederum wendet sich nach oben. Seine Worte richten sich in die Höhe zu Gott und damit wird dem Sog in die Tiefe ein vorläufiges Ende bereitet. Denn wer den Blick nach oben richtet, wird selbst auch aufgerichtet. Die Kraft geht nicht mehr nach unten, sondern nach oben. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch bleibt klar. Unsere Fehler und Verfehlungen, unser Mangel an Liebe führen zu Schuld oder produzieren Leid. Dabei könnten wir wissen, was gut ist und dem Leben dient. Denn uns sind die Weisungen zum Leben mit auf den Weg gegeben. Einfache Sätze, dem einen oder der anderen bekannt als zehn Gebote, die dem Leben und Zusammenleben dienen.

Die Kommunikation zu Gott ist nicht abgebrochen. Er hält sie aufrecht. Deshalb darf die verunsicherte Seele hoffen und harren, ein anderes Wort für „warten“. Gottes Antwort auf meine Klage wird freundlich sein. Sein Wort ist geprägt von Zuversicht, von Liebe und Barmherzigkeit, von Mut und Aufrichtigkeit. So werde ich herausgehoben aus dem sumpfigen Morast.

Wo ich die menschliche Tiefe und die göttliche Höhe ernst nehme, gibt es eine Chance zu Veränderung und Vergebung bekommt Raum. Wo ich das nicht tue, vermehren sich die Versuche zur Selbsterlösung und Selbstrechtfertigung, die dem Strudel in die Tiefe letztendlich nur weitere Kraft geben. Gottes liebvolles Wort spricht mich frei und wird dadurch zur Kraftquelle für den anstrengenden Alltag.

Die andere Antwort auf die vorhin gestellte Frage, ob und wie der Abstand zwischen Gott und mir als Mensch überwunden werden kann, nimmt auch das Neue Testament in den Blick.

Wir hörten von Gottes liebevollem Wort. In Jesus Christus wird es greifbar und menschlich. Denn er selbst ging ganz in die Tiefe menschlicher Existenz bis hin zur Todesangst. Am Ende hat er überwunden, was unüberwindbar schien. So wurde er zum Heiland, zu unserem Heil und Trost und hat uns letztlich erlöst aus den Fängen des Todes und den Verstrickungen aller lebensfeindlichen Kräfte.

Liebe Motettengemeinde,

auf dieses liebevolle Wort Gottes muss es eine Antwort geben. Es wird meine Antwort sein, die ich mit meinem Leben gebe.

Im Bibelvers für den heutigen Tag finde ich sie. Dort heißt es im Kolosserbrief im 3. Kapitel:

„So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld.“

Kolosserbrief Kapitel 3, Vers 12

 

Diese fünf Wegweiser für ein gelingendes Leben brauchen wir dringender denn je.

Denn Freundlichkeit kann Hass verwandeln.

Geduld wird denen entgegenstehen, die mit allzu schnellen und populistischen Parolen meinen, das Heil der Welt zu sein.

Erbarmen ist nötig, damit erbarmungsloser Gewalt etwas entgegengesetzt werden kann.

Sanftmut verwandelt langsam das Antlitz der Erde.

Und Demut befähigt uns, sich nicht in den Vordergrund zu schieben. Sie öffnet die Augen, damit wir erkennen, welch ein großes Geschenk Gottes Liebe ist, und sie bewahrt uns vor Selbstgerechtigkeit.

Im Kleiderschrank Gottes finden wir für jeden Tag das passende Kleidungsstück. Trauen wir uns, es anzuziehen. Amen.