Motettenansprache

  • 13.05.2023
  • Pfr. i.R. Christian Wolff

Motette am 13. Mai 2023

Thomaskirche Leipzig

Francis Poulenc (1899-1963)

Kyrie

für vier- bis achtstimmigen Chor und Solostimmen

aus der „Messe en sol majeur“, FP 89

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750, Thomaskantor 1723-1750)

Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen

Kantate zum Sonntag Rogate, BWV 87

Lesung

Johannes 16,23b-30

 

Ansprache

Verzagtheit, Verunsicherung, Angst auf der einen und der Wunsch nach Klarheit, Aufrichtigkeit auf der anderen Seite - das sind die widerstrebenden Stimmungslagen, in denen wir uns oft genug befinden. Da stürzen die Unsicherheitsfaktoren des Lebens täglich auf uns herein: plötzliche schwere Erkrankung, Trennungsdramen, finanzielle Notlagen, wie lange dauert noch der Krieg, wie viele Geflüchtete können bei uns Schutz finden, versinkt die Demokratie im rechten Sumpf? Und gleichzeitig sehnen wir uns nach nichts anderem als klare Ansagen, schnelle Lösungen von Problemen, Verlässlichkeit, Sicherheit. Wir suchen nach Orten, wo wir Entlastung, Trost, Orientierung finden, wo wir unsere Schwächen nicht verstecken müssen, wo sich Angst und Hoffnung verbinden.

Vielleicht sind ja einige heute deswegen in die Motette gekommen, um mit und durch die Musik ihr inneres Krisenmanagement zu richten, zu stärken. Um ein solches Krisenmanagement ging es auch vor 2000 Jahren, als Jesus seine Anhängerschaft auf die Zeit vorbereiten wollte, in der er nicht mehr leibhaftig gegenwärtig ist. Er wollte sie vorbereiten auf die sich abzeichnenden, dramatischen Krisen: seine bevorstehende Kreuzigung und das damit verbundene Versagen seiner nächsten, eingeschüchterten Freunde; aber auch auf die Zeit neuer Hoffnung: seine Auferstehung.

Wir haben als Lesung einen Teil der Rede Jesu gehört, mit der er die Ängste seiner Anhänger einzufangen versuchte. Zugegeben: ein für unsere Ohren nicht leicht nachzuvollziehender Text. Da sind die Jünger zunächst froh, dass Jesus nicht mehr in Zeichen, Bildern zu ihnen spricht, sondern Klartext redet. Sie erkennen in all dem, was sie mit Jesus erlebt haben, Gott selbst. Sie erkennen in Jesu Wirken das, was dem Leben dient. Doch gleichzeitig werden die Frauen und Männer um Jesus von ihm sehr unsanft darauf gestoßen, dass sie dieser Klarheit dann doch nicht gerecht werden. Dass jeder doch nur wieder das Seine, seinen Vorteil sucht, seine Haut zu retten versucht und dabei den lieben Gott einen guten Mann sein lässt.

Diese uns durchaus vertraute Widersprüchlichkeit, dieses Zurückweichen vor der Wahrheit wird auch in der Kantate „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen“ thematisiert – und zwar in einer sehr direkten Weise. Die Kantate beginnt mit einer Mahnung, einer von der Jesus-Stimme, also dem Bass, harsch vorgetragenen Kritik daran, dass die Menschen offensichtlich das Gebet, die Bitte in Jesu Namen meiden. Sie versuchen sich damit aus der Verantwortung zu stehlen. Damit greift die Kantate ein Problem auf, das uns nur allzu vertraut ist: Anstatt das, was uns belastet, offen an- und auszusprechen, verdrängen wir lieber alle Schwierigkeiten, suchen den Weg des geringsten Widerstands, meiden Debatten und Diskussionen. Doch das hat Folgen:

Ihr habt Gesetz und Evangelium übertreten

heißt es im anklagenden Alt-Rezitativ. Der Vorwurf ist unmissverständlich: Wer sich nicht seines eigenen Versagens stellt, droht zum notorischen Opportunisten zu werden. Ihr biegt euch alles zurecht und vergesst die eigenen Grundüberzeugungen. Dabei überseht ihr den Ort, an dem ihr Orientierung finden könnt, wo ihr euer Herz ausschütten, wo ihr die Lage klären uind neue Hoffnung schöpfen könnt. Holt also das nach, was ihr versäumt habt. Denn sonst flüchtet ihr euch vor der Abwägung zwischen dem, was jetzt erforderlich ist (also dem, was den Geboten Gottes entspricht), und dem, was euch jetzt möglich erscheint (also dem, was euch in den Kram passt), und dem, was uns verheißen ist (also das Evangelium von Jesus Christus). Mit dieser Flucht verfehlt ihr, verfehlen wir unser Leben.

Nun bieten Jesus in seiner Rede und die Kantate mit einer sehnsuchtsvoll-seufzend gestalteten Alt-Arie einen Ausweg aus den Schwierigkeiten an: das Gebet. Auch wenn in einer säkularen Gesellschaft Beten ein vielen Menschen befremdlich anmutender Akt zu sein scheint - es birgt die Möglichkeit, die eigene, zumeist nicht besonders rosige Lage zur Sprache zu bringen; nicht weiter alles in sich hineinzufressen, sondern sich dem zu stellen, was falsch gelaufen ist im eigenen Leben - ohne sich in Selbstmitleid zu ergehen, in das mich meine verunsicherte Seele immer wieder verführt; ohne Schuldverschiebung auf andere. Entlastung, Ermutigung, Trost in der Krisenbewältigung finde ich gerade nicht, wenn ich mich über andere erhebe, wenn ich ihnen das in die Schuhe schiebe, wofür ich selbst Verantwortung trage. Entlastung beginnt da, wo ich mich zu meinem Eigenanteil bekenne – nicht gegenüber anderen, sondern allein vor Gott: “Kyrie eleison – Herr, erbarme dich“. Warum vor ihm? Weil wir bei Gott das finden, was wir unter uns Menschen oft vergeblich suchen: Gnade. Gott begegnet keinem Menschen mit der bei uns üblichen Gnadenlosigkeit. Das ist die Grundbotschaft Jesu. Genau das kommt im von Bach hingebungsvoll komponierten Tenor-Rezitativ zum Ausdruck: Nichts vom eigenen Versagen muss verschwiegen, verdrängt werden, weil im Gebet Alles zum Himmel steigt und als Trost zurückkommt.

Das unterstreicht das zweite Jesus-Wort, das die Librettistin Marianne von Ziegler in den Kantatentext aufgenommen hat:

In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Mit diesem Wort verbindet Jesus das, was bei uns auseinanderfällt: Angst und Hoffnung, Himmel und Erde. Was unüberwindlich erscheint, was uns jeden Tag neu ängstigt, das soll uns nicht den Blick auf das Wesentliche, auf die neue Welt Gottes, auf Jesus Christus verstellen. Ja, mit dem Gebet, mit dem Glauben können wir Berge versetzen – Leiden aushalten und Leiden eingrenzen. Dieses an sich Widerstreitende bringt Bach in allen Teilen der Kantate musikalisch so zum Ausdruck, dass die Grundbotschaft unüberhörbar bleibt – wie in der Tenor-Arie:

Weicht ihr Sorgen, Trauer, Klagen,

Denn warum sollte ich verzagen?

Fasse dich, betrübtes Herz.

Ja, mit dem Gebet verlieren wir nicht die Fassung, selbst wenn die Welt aus den Fugen gerät. Mit ihm können wir unser inneres Krisenmanagement festigen und im Alltag Haltung zeigen. Amen.

 

Gebet

Gott, unser Vater,

wir wollen dir vertrauen

und dieses Vertrauen in die Welt tragen.

Wir wollen dir dienen

und darum verantwortlich leben.

Wir wollen zu dir beten,

und uns darum nicht weiter verunsichern lassen,

sondern aufmerksam werden für das,

was du uns schenkst:

deine Botschaft vom Frieden auf Erden

und der Gerechtigkeit unter den Menschen.

Gib du unseren Worten Hände

und unseren Hoffnungen Füße -

gerade jetzt, wo so viel Angst und Verdruss deine Wegweisungen und die Gute Nachricht von Jesus Christus überlagern.

Mit seinen Worten beten wir:

Vater unser im Himmel …

 

Christian Wolff, Pfarrer i.R.

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