Motettenansprache

  • 23.09.2022
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

 

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“.

 

Diese Zeile aus dem 103. Psalm ist der Spruch, der über der nun ausklingenden Woche liegt. Auf den ersten Blick könnte man denken, dass das ein typisch frommer Satz aus der Bibel ist, wie es viele gibt. Und irgendwie klingt er auch so ein bisschen nach pädagogischem Zeigefinger: Loben soll man Gott, das gehört sich so. Und das soll man auch ja nicht vergessen!

 

Aber wenn man dann nochmal hinschaut, ist da vielleicht doch ein bisschen mehr dran, über das es sich nachzudenken lohnt. Dieser ist kein Gebet, sondern eine Art Selbstgespräch. Da redet jemand mit seiner Seele. „Du, Seele, lobe den Herrn, und vergiss nicht das Gute, das er an Dir getan hat.“ Das ist ein bisschen seltsam. So würde heute niemand mehr reden, oder allenfalls noch ironisch. Manchmal redet man ja mit sich selbst: ‚Streng Dich mal an!‘ ‚Hab‘ Dich nicht so.‘ Oder vielleicht auch mal ‚Hast Du gut gemacht‘.

 

Aber die Beterinnen und Beter der Bibel denken an etwas anderes, weil ihr Menschenbild ein anderes war. Sie waren davon überzeugt, dass wir nicht nur Wessen mit Körper und Verstand sind, sondern dass es daneben einen inneren, man könnte auch sagen einen verborgenen Menschen gibt. Dieser innere Mensch ist so etwas wie ein stiller Begleiter, der das, was wir an der Oberfläche des Bewusstseins erleben, aus der Tiefe unserer Existenz betrachtet. Es gibt einen fühlbaren Unterschied, zwischen dem Menschen an der Oberfläche und dem Menschen aus der Tiefe: Man kann heiter oder, auf neudeutsch, ‚gut drauf‘ sein. Aber ist das ist noch nicht das Gleiche, wie die Empfindung wahren Glücks. Umgekehrt kann man deprimiert und eben nicht gut drauf, aber das ist nicht das Gleiche wie abgründige Traurigkeit.

 

Es geht um diesen inneren Menschen, der in einem profunden Sinn Freude, Glück oder Trauer empfindet. Von diesem inneren Menschen spricht die Bibel als „Seele“:

 

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat.“

 

Manchmal kann man die Seele besonders deutlich erleben: Bei schweren Schicksalsschlägen, vor allem beim Verlust geliebter Menschen, wenn eigentlich alles auf Horror oder Verzweiflung hinauslaufen müsste, stellt sich trotzdem auch ein Gefühl von Dankbarkeit und Ruhe ein. Das kann man nicht wollen oder machen, aber es ist da. Oder auch umgekehrt, manchmal überkommen einen Melancholie und Trauer gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartet und wenn eigentlich alles ganz gut ist. Die Seele spricht aus der Tiefe und manchmal gegen das, was an der Oberfläche gerade geschieht. Aber sie spricht nicht besonders laut und oft überhört man sie im Trubel des Alltags, im Hin und Her täglicher Geschäftigkeit. Und manchmal sind wir einfach zu abgelenkt oder stecken zu fest im hier und jetzt und von jetzt auf gleich.

 

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat.“

 

Mit der Seele meint die Bibel den inneren und verborgenen Menschen, der wir sind. Und darum können wir Gott loben, weil es die Seele ist, die Gottes Nähe spürt oder die darunter leidet, wenn Gott fern ist. Für die Bibel ist Gott keine besonders robuste Präsenz. Im Gegenteil, wer sein Leben immer im Trend oder ‚on the edge‘ führt, wer sich nur dann wohlfühlt, wenn er vom Zeitgeist so richtig durchgenudelt wird, wird von Gott vermutlich nicht so sehr viel mitbekommen – und braucht das vielleicht auch gar nicht.

 

Das bringt uns an diesen Ort und an das, was wir heute hier erleben. Musik, vor allem die Musik, die hier normalerweise erklingt, wurde geschrieben, um mit der Seele gehört zu werden. Wir sind heute nicht hier, um unterhalten zu werden. Dafür gäbe es an einem Freitagabend andere Möglichkeiten. Was hier erklingt, wurde geschrieben mit unserem Wochenspruch in und zwischen den Zeilen: Musik ist seit allen Zeiten etwas, das die Seele zum Klingen bringt – etwas, das diesem inneren, verborgenen Menschen, der wir sind, Raum gibt. Musik, die das kann, will nicht einfach schön sein, sondern hat ein anderes Ziel: Sie gibt Halt und Stärke gerade in Zeiten, die einem allzu leicht den Glauben an alles rauben und den Boden unter den Füßen wegziehen.

 

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat!“

 

Menschen heute fragen sich – still oder lautstar –, ob wir jemals wieder in ruhigen und sorgenlosen Zeiten leben werden. Eine Krise jagt die andere, und ihre Auswirkungen schwappen über den ganzen Planeten – erst Corona, dann Krieg und Energiekrise. Die Einschlagskrater scheinen schneller und auch immer näher zu kommen. Oder fühlt sich das nur so an, weil wir uns von jeder Krise aus unseren Fundamenten reißen lassen? Mir fällt in letzter Zeit immer wieder ein Satz ein, den meine Großmutter zu sagen pflegte, wenn ich meinte, dass aus irgendwelchen Gründen gerade die Welt unterginge. Sie war Jahrgang 1912 und hatte im zarten Alter von 34 immerhin schon zwei Weltkriege mitgemacht. Sie sagte dann immer, und ich muss es auf Schwäbisch zitieren: Ha woisch, s’isch scho schlimmer gwä. Sinngemäß übersetzt: , Es war auch schon schlimmer.‘ Das waren natürlich tröstende Worte einer Oma an ihren Enkel, aber da war auch noch eine ernstere Botschaft: Du kannst es nicht der Welt da draußen überlassen, Dich auseinanderzunehmen und erwarten, dass sie dich dann auch irgendwie wieder zusammenzusetzen. Du musst wissen, woran Du glaubst und woran Du Dich halten willst.

 

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat!“

 

Dieses betende Selbstgespräch ist auch eine Ansage für unsere Zeit und gegen den Katastrophismus, der sich ausbreitet. Es ist eine Ansage gegen alle, ob hier oder in Moskau oder sonst wo, die meinen, dass Menschen endlos einschüchterbar sind. Es ist aber auch ein Satz gegen alle, die Krisen zum eigenen Vorteil und für schnelle Profite ausschlachten. Und es ist schließlich eine Ermahnung an uns selbst, doch endlich das leichtgläubig sorglose und verschwenderische Wohlstandsleben aufzugeben, das wir so lange für normal gehalten haben.

 

Wir werden diesen Satz „Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat“ gleich noch hören und zwar in seiner vielleicht berühmtesten Version, nämlich in den Worten Marias, der Mutter Jesu. „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.“ Das sind die Worte einer einfachen Frau, die gewiss etwas über Krisen, fremde Mächte und eine Welt im Kopfstand wusste, aber die sich von alle dem nicht den Schneid abkaufen ließ. Dieses Magnificat ist schon ein kleiner Vorgeschmack auf die Adventszeit – und das darf auch so sein. Jetzt, da es draußen kühler und spürbar früher dunkel wird, ist es gut, nicht nur daran zu denken, was uns, aus allen möglichen Gründen, für ein furchtbarer Winter bevorstehen könnte, sondern dass wir bei alle dem auf die Zeit zugehen, in der Gott zur Welt kommt und die in besonderer Weise für Gottes Nähe und Erbarmen steht.

 

„Lobe den Herrn, meine Seele!“

 

Amen.