Motettenansprache

Die Ansprache wurde gehalten von Pfarrer Bernhard Stief von der Nikolaikirche Leipzig

  • 04.02.2023
  • Pfarrer Bernhard Stief, Nikolaikirche Leipzig

Motette in der Thomaskirche Leipzig
am 4. Februar 2023, 15 Uhr,

Evangelium zu Septuagesimä: Matthäus 20


1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter
anzuwerben für seinen Weinberg. 2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen 4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. 5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. 6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? 7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. 8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. 9 Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. 10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. 11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. 13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? 14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. 15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.


Ansprache
Das ist doch ungerecht, mögen einige denken. Es kann doch nicht angehen, dass jene, die nur eine Stunde gearbeitet haben, genau so viel verdienen, wie jene, die neun Stunden körperliche Arbeit hinter sich haben. Jedes Mal, liebe Motettengemeinde, wenn wir diese Geschichte hören, regt sich Widerspruch. Heute würden Betriebsräte und Gewerkschaften aber mächtig auf die Barrikaden gehen. Gerechtigkeit sieht anders aus. Tatsächlich haben wir heute alle Hände voll zu tun, Gerechtigkeit herzustellen. In harten und zähen Verhandlungen wird versucht, die Interessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auszugleichen. Eine umfangreiche Gesetzgebung soll Orientierung geben und ungerechte Arbeitsbedingungen verhindern.

Kommt es doch zu Unstimmigkeiten, werden Anwälte und Gerichte bemüht, den
Dissens aufzulösen. Gerechtigkeit ist eine schwierige Angelegenheit. Das wird vor allem
dann deutlich, wenn wir bei unserem Ringen nach Gerechtigkeit die Menschlichkeit, die
Liebe oder Barmherzigkeit vermissen lassen. Das passiert, wenn wir an alle Menschen ohne
Ansehen der Person den gleichen Maßstab anlegen. Das mag vielleicht gerecht sein, ist aber
ganz schnell unbarmherzig. Ein Beispiel: Eltern, die ihre Kinder gerecht erziehen wollen,
merken schon beim zweiten oder spätestens beim dritten Kind, dass die Regeln, die noch
beim ersten Kind galten, beim dritten nicht mehr angemessen sind. Die Anforderungen,
wann ein Kind zu Bett gehen muss, wie lange es Computer spielen darf und wieviel es im
Haushalt mitmachen soll, wandeln sich, je mehr Kinder in der Familie leben. Auch eine Gesellschaft wird unbarmherzig, die nur auf Recht und Ordnung baut. Wir sehen, wie schwer
es autoritären Staaten fällt, die Angemessenheit eigener Forderungen zu hinterfragen. Nur
weil die Iranerin Jina Mahsa Amini ihr Kopftuch nicht richtig getragen hatte, musste sie und
viele, die mit ihr sympathisierten, mit dem Leben bezahlen. Zum Glück leben wir in einer
großen Freiheit und in einem Sozialstaat, der bei seinen Normen Menschen verschiedener
Religionen, Kulturen und sozialer Herkunft berücksichtigt. Und doch erleben auch hier viele
Menschen Gesetze und Regeln als ungerecht, die eigentlich Gerechtigkeit schaffen sollten.
Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist leer. Der Scholastiker Thomas von Aquin spitzte es
zu: Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit. Leider ist sie in unserer Welt weit
verbreitet.


Unser Wochenspruch wendet sich daher an Gott und sagt: „Wir liegen vor dir mit unserem
Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“
Wer das sagt, weiß, dass die Gerechtigkeit dieser Welt nur vorläufig und unvollkommen
bleibt. Auf Gottes Barmherzigkeit dagegen ist Verlass. Sie gilt allen Menschen. Sie lässt
niemanden zurück. Und davon erzählt das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Allen
Arbeitern wird ein Leben in Würde versprochen. Ein Silbergroschen war nicht nur ein Tageslohn, sondern so viel Geld, wie eine Familie an einem Tag zum Leben brauchte. Diejenigen, die vormittags Arbeit fanden, waren überglücklich, nicht mit leeren Händen nach Hause zu kommen. Und jene, die am Nachmittag ein Angebot bekamen, durften mit ihren Familien ebenfalls satt werden. Ist das ungerecht? Nein, sagt Jesus, das ist Barmherzigkeit. Die ersten erhielten genug zum Leben, die letzten nicht weniger. Alle durften leben.
Die Geschichte führt uns aber auch vor Augen, dass die Frage nach Gerechtigkeit oftmals mit
Neid verbunden ist. Wir Menschen fragen weniger nach dem, was wir brauchen, als nach
dem, was andere haben. Wir orientieren uns am Besitz der anderen. So macht uns die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg deutlich, dass es Menschen gibt, die mehr haben,
ohne, dass es uns schlecht geht. Es gibt Menschen, die begabt sind, die erfolgreich sind, denen das Glück gewogen scheint, ja, die sich mitunter auch mehr leisten können. Und doch dürfen auch wir erkennen, wie gut wir es haben. Was brauchen wir mehr, als das, was wir haben:

eine Familie, eine Aufgabe, genug zum Leben und Frieden? Was sehen wir scheel drein, dass
Gott anderen Menschen gütig ist?


Schließlich kann man die Arbeitszeit auch als Lebenszeit verstehen. Dann wird es noch persönlicher,denn wer von uns weiß, ob er oder sie schon zu denen gehört, die fleißig an Gottes neuer Welt oder am Himmel auf Erden mitarbeitet. Sind wir schon dabei oder stehen wir nur im Weg? Leben wir gottgefällig oder würden wir es gern? Der Hausherr der Geschichte lässtdie Suchenden nicht draußen. Gott holt uns ab und lädt uns ein. Auch die, die später kommen,sind noch nicht zu spät. Der barmherzige Gott gibt aus seiner Fülle, damit wir leben können.

Wenn wir nun gleich die Kantate hören, die Johann Sebastian Bach 1725 für den Sonntag
Septuagesimä komponiert hat, werden wir uns wundern, dass das Evangelium von den Arbeitern im Weinberg gar nicht vorkommt. Bach hat vielmehr ein Lied von Paul Gerhardt vertont, im Übrigen das einzige Mal. Was aber hat ihn wohl bewogen, gerade dieses Lied als
Antwort auf das Evangelium zu wählen? Ich meine, es ist genau die Barmherzigkeit Gottes,
die im Evangelium verhandelt wird und die Paul Gerhardt in den 12 Strophen seines Liedes
bewegend bestätigt. Gott ist barmherzig. Ihm, der ein Herz für die Armen hat, will Paul
Gerhardt ganz und gar gehören: „Ich hab in Gottes Herz und Sinn mein Herz und Sinn ergeben.“


So beginnt das Lied und die gleichnamige Kantate. Die konsequente Hingabe an Gottes
Herz, an das Herz dessen, der die Armen liebt, berührt. Sie berührt vor allem deswegen, weil
Paul Gerhardt nach dem 30-jährigen Krieg in einem verwüsteten Land und mit dem Verlust
lieber Menschen genug Grund gehabt hätte, über die Ungerechtigkeit des Lebens zu jammern.


Aber er jammert nicht. In bewundernswerter Gleichmut nimmt er Freud und Leid aus
Gottes Hand und legt sein Leben am Ende in diese zurück: „Ei nun, mein Gott, so fall ich dir
getrost in deine Hände“. Wer will, kann aus diesem Lied und der von Bach komponierten
Kantate Todessehnsucht hören. Aber eigentlich ist es der Blick auf das Leben, der durch alles
selbstverschuldete oder ungerechte Leiden auf Ostern fällt. Es ist das Vertrauen in Gottes
Barmherzigkeit, das auch im Leiden an der Ungerechtigkeit dieser Welt nicht verlorengeht.
Am Sonntag Septuagesimä wird dieses Vertrauen in Gottes Barmherzigkeit wachgerufen, damites uns durch die Passion nach Ostern trägt: „Wohlan! Ich tret auf Bahn und Steg, den mirdein Augen weisen“.


Mag sein, liebe Gemeinde, dass der hingebungsvolle Text und die wundervolle Musik das
Gefühl vermitteln, der Glaube tröstet uns wieder einmal über alle Ungerechtigkeit hinweg.
4
Aber nein, damit zögen wir heute den falschen Schluss. Die Barmherzigkeit Gottes will uns
einmal mehr zeigen, dass wir nicht zu kurz kommen und zum anderen helfen, bei allem Ringen um Gerechtigkeit selbst nicht unbarmherzig zu werden. Amen.

Gebet
Barmherziger Gott, wir danken dir für dein großes Herz. Du gibst niemanden verloren. Alle
sollen gerettet werden und ein Leben in Fülle haben. An dein Herz legen wir jene, die neben
uns hungern, die krank sind oder der Freiheit beraubt wurden. Wir bitten um jene, die dem
Tode näher sind als dem Leben. Sei ihnen mit deiner Barmherzigkeit nahe. Verhilf uns zu
einem barmherzigen Leben, das dankbar bleibt und um soziale Gerechtigkeit bemüht ist.
Dich beten wir an: Vater unser ...

Bernhard Stief, Pfarrer an der Nikolaikirche Leipzig