Motettenansprache zu Kantate „Liebster Jesu, mein Verlangen“ BWV 32

  • 07.01.2023
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Motettenansprache am 7.1.2023, St. Thomas zu Leipzig um 15 Uhr, Kantate „Liebster Jesu, mein Verlangen“ BWV 32

 

Der Kantatentext ist hier zu finden:

BWV 32 (ualberta.ca)

 

Liebe Motettengemeinde,

 

wer schon einmal sein Kind suchen musste, weil es nicht zur verabredeten Zeit nach Hause kam, wird sich sehr schnell in die Gefühlslage der Eltern Jesu hineinversetzen können. Groß ist der Schrecken und sitzt tief in den Knochen. Drei Tage schmerzvolles Suchen und drei Tage dunkle Gedanken. Dann endlich die Erlösung. Das Jesuskind wird im Tempel gefunden. Jesus ist dort, wo er hingehört, jedoch können das seine Eltern nicht wirklich wissen – trotz Verheißungswort über ihrem Sohn.

Zwischen Eltern und Kind kommt es zum Missverständnis. So einleuchtend die Vorwürfe der Eltern sind, lieben sie doch ihr Kind, so einleuchtend ist auch die Antwort Jesu, die von den Eltern nicht verstanden wird.

In der Kantate „Liebster Jesu, mein Verlangen“ wird das Motiv des Suchenden nach dem, was ihm ans Herz gewachsen ist, aufgegriffen. Beständig korrespondieren Seele und Jesus miteinander. Ein Auf und Ab sorgender Suche sowie liebevoller Verheißung durchzieht die ganze Kantate. Die angefochtene Seele möchte Ruhe finden, so wie Liebende sich in Sehnsucht verzehren, um dann endlich miteinander vereint zu sein. Die dann daraus entstehende überschwängliche Freude wird in vollen Zügen genossen. Liebesmystik nennen wir das, liebe Motettengemeinde. In der Barockzeit taucht sie vielfach auf. Biblisch ist das Lied der Lieder des Alten Testaments, auch Hohelied genannt, der Text für Liebesmystik schlechthin. Man kann ihn selbstverständlich auch erotisch lesen, aber das passte den männlichen Kirchenführern, die zumindest nach außen hin enthaltsam lebten, nicht so recht. Also Liebesmystik als Symbol für die innige Gemeinschaft von menschlicher Seele und Gott.

Die Seele verzehrt sich nach dem Göttlichen und möchte mit ihm vereint sein. Es kommt zur unio mystica – eben jener Vereinigung von Seele und Christus. Sorgenfrei, angstfrei, voller Freude und Zuversicht wird diese Zeit nun ausgekostet und dient als Fundament für den oft schwierigen Alltag.

Eben jener Alltag lässt uns häufig fragen, Wo bist Du Jesus? Wo finde ich dich? Warum habe ich das Gefühl, dass du nicht da bist?

Die Antwort auf diese Fragen gibt Jesus im dritten Kantatensatz in der Bassarie. Du findest mich in deinem Herzen, wenn, ja wenn, dort Platz ist. Und da beginnen schon wieder die Probleme, liebe Motettengemeinde: Wir vermüllen unser Herz mit „Erdentand“, mit Sorgen und Befindlichkeiten, mit Ängsten oder allen möglichen Dingen, die dort nicht hingehören, weil sie weder dem Leben dienen noch dem eigenen Wohlergehen.

Wer kennt es nicht, das Wachwerden, wenn eigentlich Schlaf angesagt ist, weil in die Herzensrumpelkammer wieder ein neuer Gedanke ungefragt eingezogen ist?

Die suchende Seele ergreift ihre Chance und vertraut sich Christus an. Damit kommt es zum Paradigmenwechsel.

Der 5. Satz der Kantate, dem Duett von Sopran-Seele und Bass-Jesus erinnert an eine Gavotte.

Bach lässt Jesus tanzen. Er tanzt mit der Seele des Gläubigen. Voller Freud, ohne Leid verschwinden alle Plagen aller Schmerz und das klagende „Ach“ aus der Anfangsarie löst sich ebenfalls auf.

Darf man sich Jesus tanzend vorstellen, liebe Motettengemeinde? Darf eine Kantate im Gottesdienst so enden?

Vielleicht war es Bach, der nun wahrlich keine Scheu vor neuen Ideen mit den oftmals daraus entstehenden Unannehmlichkeiten hatte, ein bisschen zu keck. Deshalb erdet die Choralstrophe alles wieder ein wenig und dämpft die Freude auf das für das damalige Gottesdienstverständnis Erträgliche ab.

Schade, eigentlich.

Natürlich lassen sich theologische Bögen finden, um alles einzusortieren. Da wäre zum Beispiel die Bitte des Gläubigen, Gottes Gemeinschaft in Christus zu schmecken, also der Hinweis auf das Abendmahl. Oder die Bitte, Gott möge durch seinen Geist selbst die treibende Kraft sein, dass sich der Gläubige an ihn wendet. Das ist alles richtig.

Mir gefällt jedoch das unkonventionelle Bild vom tanzenden Jesus besser. Es lässt mich anders auf meinen Alltag blicken.

Mit einem fröhlichen Jesus durchs Leben zu tanzen, ist doch eine lohnenswerte Vorstellung. Gerade weil das Leben mit seinen Abgründen, mit Plagen und Fallen, mit seinen Feinden und Unwägbarkeiten uns beschwerlich daherkommen kann, gerade deshalb kann die beschwingte Freude zum entlastenden Gegenpol werden.

Alles Ach, alle Plagen werden weggetanzt.

Die Führung übernimmt Jesus Christus.

Er gibt gleichzeitig Halt und lässt genügend Raum für die eigenen Schritte.

Ich möchte sie dazu einladen, liebe Motettengemeinde.

Genießen sie das Vergnügen, nach einer kurzen Aufräumaktion im Herzen, für Jesus dort Platz zu haben. Und dann:

Tanzen sie mit Jesus durchs Leben!

Amen.

Pfarrer Martin Hundertmark (hundertmark@thomaskirche.org)

 

Lukasevangelium Kapitel 2

41 Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. 42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes. 43 Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten’s nicht. 44 Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. 45 Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn. 46 Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. 47 Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. 48 Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. 49 Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss bei denen, die zu meinem Vater gehören? 50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. 51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. 52 Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.