Predigt

  • 31.12.2020 , Altjahresabend - Silvester
  • Prof. Dr. Andreas Schüle

Liebe Gemeinde,

nein, ich will gar nicht erst versuchen, das nun ausklingende Jahr 2020 Revue passieren zu lassen. Über die Feiertage habe ich mir ein paar der Jahresrückblicke im Fernsehen angeschaut und ziemlich regelmäßig nach der Hälfte wieder ausgeschaltet, weil alle irgendwie gleich und auch ziemlich vorhersehbar waren: Lockdown 1 und 2, Belarus, US Präsidentenwahl, extremistische Gewalt … . Mein einundzwanzigjähriger Neffe, der dabei neben mir saß, meinte: „Na, wenigstens hat der FC Bayern das Triple gewonnen!“ Nein, 2020 muss ich mir nicht noch einmal nacherzählen lassen.

Umgekehrt fällt es schwer, den Blick nach vorne zu richten. Soll man 2021 zum großen Hoffnungsjahr ausrufen, in dem wir nun endlich alle wieder – Impfung sei Dank – unser Leben zurückbekommen werden? So klingt es ja ein bisschen, wenn man den offiziellen Verlautbarungen glauben darf. Die Frage ist schon gar nicht mehr, ob, sondern nur noch wie schnell alles gehen wird. Oder aber wäre es klug, doch lieber vorsichtigere Töne anzuschlagen, weil tatsächlich noch niemand weiß, ob die Impfungen tun, was sie tun sollen, und wann es dann mit Abstand und Masken wirklich vorbei sein wird? Am Ende vermasselt uns eine Genmutation oder eine zu kurze Wirkzeit des Impfstoffs noch das Happy End?!

Wir befinden uns in diesen Tagen in der sogenannten „Zeit zwischen den Jahren“, und ich finde, dass es sich auch genauso anfühlt – wie das Niemandsland zwischen Hoffnung und Frustration, Enthusiasmus und Realismus. Und so hört man viele Menschen sagen, dass sie es jetzt einfach nehmen wie’s kommt. Alles andere sei ohnehin nur Verschwendung von Zeit und Energie.

Was soll man also denken zwischen den Jahren und wie sich hineintasten in das neue Jahr, das in ein paar Stunden beginnt?

In den letzten Wochen habe ich immer wieder ein Buch aus dem Regal geholt, das mir zum Begleiter in diesen besonderen Zeiten geworden ist.

Es trägt den Titel „Widerstand und Ergebung“. Schon über diesen Titel allein könnte man lange nachdenken. Wann und wie lang soll man sich eigentlich einer Sache ergeben, die man meint, nicht ändern zu können? Und wann kommt der Moment, sich aufzulehnen? Der Autor dieses Buches ist der Theologe Dietrich Bonhoeffer. Eigentlich ist es gar kein richtiges Buch, sondern eine nachträgliche Sammlung von Notizen, Briefen, Gedankensplittern, die Bonhoeffer während seiner letzten Lebensjahre im Gefängnis von Berlin Tegel verfasste. Inhaftiert wurde er, weil er den Widerstandskreisen gegen das NS-Regime zugehörte. Lange hatte man außer Indizien keine stichhaltigen Beweise, die zu einer Verurteilung ausgereicht hätten, und so hielt man ihn in Haft. Am Ende waren das ziemlich genau zwei Jahre, bis zu seiner Hinrichtung gerade mal einen Monat vor Ende des Zweiten Weltkriegs.

Bonhoeffers Aufzeichnungen sind vor allem Reflexionen darauf, wie sich sein Leben und seine ganze Lebenseinstellung unter den Bedingungen der Haft veränderten. Und er zeigt sich immer wieder überrascht über sich selber. Er hadert mit Dingen, die ihm sonst nie wichtig waren, und er entwickelt Stärke in Momenten, die ihn früher hätten verzweifeln lassen. Und er denkt über seinen Glauben und über seinen Gott nach in einer Situation, in der nichts mehr von dem greifbar ist, was diesen Glauben früher gestützt hatte. Keine Familie, keine Freunde, keine Kirche, keine Lieder, keine bürgerliche Kultur, die einem Mitglied der intellektuellen Oberschicht, zu der Bonhoeffer gehörte, Halt und Sicherheit gaben. Was also trägt noch, wenn nichts mehr trägt? Was gibt Gewissheit, wenn man nicht einmal weiß, ob der kommende Tag Leben oder Tod bringt?

In dieser besonderen Situation schrieb Bonhoeffer, am 19. Dezember 1944, also fast genau vor 76 Jahren, einen Brief an seine Verlobte, Maria von Wedemeyer. Darin heißt es:

„Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du und die Eltern, Ihr alle, die Freunde …  Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zweie, die mich decken, zweie, die mich wecken‘, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“

Ich bleibe an dem ersten Satz hängen „Es ist so, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen.“ Die meisten von uns haben im vergangenen Jahr nicht annährend erlebt, womit Bonhoeffer fertig werden musste. Gleichwohl, wenn man fragen will, was dieses Jahr 2020 mit uns gemacht hat, hilft dieser Satz vielleicht auch uns weiter. Es war ein Jahr von Verzicht und Einsamkeit. Vermutlich nur sehr wenige haben jemals so viele Eingriffe von außen in ihr Leben erlebt wie in den letzten Monaten. Noch vor einem Jahr wäre es schlicht und ergreifend undenkbar gewesen, dass Polizei uns auf der Straße anhält, um zu kontrollieren, ob wir uns dort aufhalten, wo das zu einer bestimmten Tages- und Nachtzeit auch dürfen. Viel ist geschehen, und nicht alles war gut. Man denke an die Rede von der „Systemrelevanz“ – ein guter Kandidat für das Unwort des Jahres.

Jeder und jede wird seine persönliche Geschichte aus diesem Jahr erzählen können. Kaum eine davon wird wohl allzu euphorisch ausfallen, vieles wird irgendwo in einer Grau- oder gar Schwarzzone zu finden sein. Aber trifft es auch für uns zu, was Bonhoeffer an sich beobachtet hat? Hat unsere Seele „Organe ausgebildet“, von denen wir bis dahin gar nichts wussten? Oder anders gesagt: Sind wir durch das Erlebte sensibler, aufmerksamer geworden für das Menschsein in seiner Tiefe? Gehen wir mit uns selbst und anderen sorgsamer um als zuvor – rücksichtsvoller, weniger verschwenderisch oder ausbeuterisch? Sind die Nervenenden unserer Seele gewachsen oder sind sie abgestumpft angesichts der Härten und Entbehrungen, die das Jahr mit sich gebracht hat?

Und noch einen Schritt weiter: Bonhoeffer spricht davon, dass gerade in der Entbehrung und der Not die guten Mächte spürbar werden, die einen, wie er sagen kann, „treu und still“ umgeben. Sicher hat er nicht nur diese guten Mächte erlebt, aber sie waren ihm in anderer Intensität gegenwärtig als sonst. Es ist wohl eine besondere Gnade, wenn einem so etwas widerfährt. Verordnen, erwarten oder als Ideal hinstellen, kann man das nicht. Wer dieses Jahr einen nahen Menschen verloren hat oder nicht weiß, wie es wirtschaftlich weitergehen soll, wird eine solche Erfahrung vielleicht nicht teilen können. Mindestens aber wird es Zeit brauchen. 

So gerne wir 2020 nun hinter uns lassen, es wäre ein Verlust, wenn wir nichts anderes daraus mitnehmen würden als den Wunsch, dass alles wieder genauso werden möge wie vorher. Auch all das Schlechte, Überflüssige, Oberflächliche … . Ich habe so ein bisschen Sorge, liebe Gemeinde, dass viele, sobald das wieder möglich ist, nur den versäumten Konsum nachholen und zu der dünnwandigen Spaßgesellschaft zurückkehren wollen, die wir schon zu Genüge kennen. 2021 könnte bei aller Erleichterung, die es hoffentlich bringen wird, diesbezüglich auch ein ernüchterndes Jahr werden.

Ich wünsche uns allen ein bisschen mehr. Ich wünsche uns, dass wir dem nachgehen, was uns dieses Jahr wichtig geworden ist und nicht so sehr dem, was uns gesagt wird, das wichtig sei. Ich wünsche uns, dass wir behutsamer und geduldiger miteinander umgehen, weil wir spätestens jetzt wissen sollten, wie wenig robust wir am Ende sind, auch wenn wir gerne so tun als wäre das anders. Ich wünsche uns, dass wir die Erfahrung von Endlichkeit und Ungewissheit aus diesem Jahr als Frage nach Sinn und Erfüllung mitnehmen. Aber dabei hoffe ich auch auf die guten Mächte und dass wir sie mit den Sinnesorganen unserer Seele spüren können. Ganz ohne wird es wohl nicht gehen, das weiß, wie Bonhoeffer zurecht sagt, jedes Kind.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.