Predigt 1. Kor. 13, 1-13

  • 19.02.2023 , Sonntag vor der Passionszeit - Estomihi
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Predigt Estomihi, letzter Sonntag vor Beginn der Passionszeit (V)

St. Thomas 19.2.2023

1. Kor. 13, 1-13

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Schöpfer und unserm Herren Jesus Christus.

Lasst uns einen Moment Stille halten.

„Gnothi sauton!“ - „Erkenne dich selbst!“ So lautet in zwei Wörtern komprimiert eine beeindruckende antike Geisteshaltung. Ihre philosophischen Vertreter strebten danach, der eigenen, d.h. der menschlichen Begrenztheit und Hinfälligkeit gewahr zu werden. Das bedeutete folgerichtig, sich als Mensch in seinen und ihren Möglichkeiten nicht zu überschätzen und nach Möglichkeit im Einklang mit der Natur zu leben. Ich wiederhole es: Diese antike Geisteshaltung ist beeindruckend. Und doch schnippst mir beim „Erkenne dich selbst!“ im heutigen Deutsch und in den Kontexten, in denen ich hier und jetzt lebe, ein ganz anderes Bild in den Sinn. Es entstammt einem Märchen der Gebrüder Grimm. Die sprichwörtliche böse Stiefmutter, im Märchen immer dazu verdammt, die dunkle und boshafte Antagonistin zum Guten zu sein …, die Stiefmutter befragt dort regelmäßig ihren Spiegel und sonnt, aalt, suhlt sich im Superlativ der Antwort, die ihr die 'Schönste im ganzen Land' zu sein spiegelt.

Spieglein, Spieglein an der Wand
wer ist die Schönste im ganzen Land?

Frau Königin, ihr seid die Schönste hier. -

Erkenne dich selbst? - Spieglein, Spieglein an der Wand ...

Wer ist der Begabteste im ganzen Land?

Wer ist die Redegewandteste im ganzen Land?

Wer der Reichste im ganzen Land?

Wer die Grellste im ganzen Land?

Wer ist der Lauteste im ganzen Land?

Spieglein, Spieglein. Ein anstrengender Wettlauf der Superlative entspinnt sich da. Der Blick in den Spiegel führt nur vermeintlich zu Selbsterkenntnis.

Unser Predigttext hält da einen Satz bereit, der so vollkommen anders ist:

„Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild.“

Liebe Gemeinde, ist es nicht ein wahnsinniges Gut des Lebens in Christus, dass wir immer und immer wieder die Möglichkeit angeboten bekommen, die Welt und uns darin anders zu sehen, ganz anders in Blick zu nehmen?!! Christ sein, Christin sein: eine echte Alternative.

In der Welt lautet die Frage: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der oder die Schnellste Höchste Weiteste im ganzen Land?“
Die Alternative, die uns Paulus im Ersten Brief an die Korinther anbietet, lautet: „Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild.“

Und noch etwas finde ich immer und immer wieder toll am Glauben, jedenfalls, wenn ich es mir bewusst mache: Die Glaubenssätze, an denen ich eingeladen bin, mein Leben auszurichten, weisen über mich und über mein Dasein hinaus. Genau das tut auch Paulus an die Korinther in der Art, wie er seinen Satz fortsetzt: „Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Und gleich darauf sagt er es noch einmal mit anderen Worten, diesmal in der bekenntnishaften 1. Person: „Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin.“

Erstes Zwischenfazit in der Predigt also. Zu glauben bietet eine echte Alternative und zu glauben weist über mich selbst hinaus, und zwar mitten in meinem Leben (nicht erst nach dem Tod)!

Paulus bietet ein weiteres Bild an, um zu zeigen, dass sich im Verlauf unseres Lebens, gehalten und getragen von Gottes Liebe, ein Wandel an uns und in uns selbst vollzieht. Er ruft in uns das Bild eines kleinen Kindes wach, ja er erinnert uns daran, selbst einmal Kind gewesen zu sein: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, urteilte wie ein Kind und machte mir Gedanken wie ein Kind. Als ich erwachsen wurde, verschwand [wurde zerstört], was kindlich war.“ Die Kindheit, das Kindsein ist die gewichtige und grundlegende Phase in unserem Leben, in der die Basis für unsere Liebesfähigkeit gelegt wird. Aber eines Tages er-wachsen wir daraus. Was in unserer Kindheit bruchstückhaft blieb, lassen wir zurück. In der Vollkommenheit – hier im Bild: im Erwachsensein – bleibt das Unvollkommene und Bruchstückhafte des Kindlichen hinter uns. Es scheint also möglich zu sein, dass ich mich im Älterwerden mit meiner Kindheit, und sei sie noch so unvollkommen, versöhne. Was für eine gute Verheißung ist das im Licht von Gottes gerechter Sonne!

 

Einiges an Predigt, liebe Gemeinde, ist nun schon vorbei. Die Erfahrenen unter Ihnen werden sich fragen: 'Na, was ist denn nun der Predigttext für den heutigen Sonntag?! Wann verliest sie ihn denn endlich?!!' Andere unter Ihnen haben wahrscheinlich schon bemerkt, dass ich das Pferd des Predigttextes heute sozusagen von hinten aufzäume. Die beiden Verse des Paulus aus dem 1. Korintherbrief, die ich schon gelesen habe, stehen ziemlich weit hinten in unserm Predigttext.

Ich habe mich bisher gescheut, die Stelle zu benennen. Und das aus einem einfachen Grund. Ich hatte Angst vor der Wirkung, ich hatte Angst, dass bei Ihnen, liebe Gemeinde, eine Hör- und Deutungsgewohnheit einschnappt. In diese Falle bin ich selbst schon allzu oft getappt; vor allem immer dann, wenn ich bei Freunden oder Freundinnen zu einer Trauung eingeladen war.

1. Kor. 13, 1-13 – nun ist es raus. Es ist der Text im Neuen Testament, der als „Hoheslied der Liebe“ überschrieben wurde. Und genau! Jetzt sehe ich es in Ihren Gesichtern, welcher Film da abläuft.

--- Hochzeitsmarsch imitieren ---

Manche können den Text fast auswendig, haben ihn jedenfalls schon oft gehört:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, ...“, gefolgt von

„Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, 5sie verhält sich nicht ungehörig, ...“ Und dann: „sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ …, gipfelnd in: „Die Liebe höret nimmer auf ...“. Spätestens bei „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ entringen sich der Brust einer jeden Hochzeitsgesellschaft Stoßseufzer, gemäß dem still geäußerten Wunsch: 'Hoffentlich klappt es bei diesen beiden. Hoffentlich kriegen die das hin mit der Liebe, die niemals aufhört.'

--- Hochzeitsmarsch imitieren --- Film durch STOPP, klatschen o.ä. unterbrechen ---

Doch halt! Genau das wollte ich verhindern. Dieser Text ist kein Text für Brautpaare. Und dies ist auch keine Predigt mit rosa Herzen, nachträglich zum Valentinstag. Würde sich die Liebe, die unser Predigttext besingt, auf die Liebe in Partnerschaften beschränken, dann müssten sich die meisten von uns ausgeschlossen fühlen oder einen anderen, parallelen Gottesdienst besuchen.

(Ich habe von der Kanzel aus ja ganz gut den Überblick. Ich sehe, wer von Ihnen zu zweit in der Bank sitzt. Ich sehe auch, wer unter den Paaren trotzdem auf Abstand gegangen ist. Ich sehe, wie viele von Ihnen alleine sitzen; alle Altersstufen sind da vertreten. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Predigttext im 1. Kor. 13 richtet sich nicht an Paare und nicht ausschließlich an solche Menschen, die in Partnerschaft  leben. Wäre das der Fall, unsere Thomaskirche heute würde sich sofort auf mindestens die Hälfte der Leute leeren … und auch die Kanzel wäre plötzlich verwaist.)

 

Nein. Das Hohelied der Liebe, wie es Paulus aus der Ferne nach Korinth schreibt, richtet sich an die Gemeinde, richtet sich – an uns.
Dieses Lied ist getragen von einer Gewissheit, was die Kraft des Heiligen Geistes unter uns Menschen zu wirken vermag.
Es ist beseelt von der Hoffnung, dass Gottes Kraft uns Menschen verändern kann.
Es ist erfüllt von dem Vertrauen, dass die Geistkraft Gottes ein Leben in Beziehung, ein Leben in Gerechtigkeit, ein Leben in Frieden möglich macht.

Das Hohelied der Liebe meint – so hört es sich bei diesem scheinbaren Rundumschlag an – etwas Universelles. Aber eben nicht nur. Universell ist diese Liebe, weil sie alle Bereiche unseres Daseins umfasst. Dabei ist und bleibt ihr aber eigen, dass das bewegende Moment dieser Liebe Gottes Geist ist. Diese, Gottes Kraft ist es, die verändert, die aufbricht, die vollendet und die Bruchstücke zusammenfügt. Von ihr können wir uns leiten lassen. Ihr dürfen wir nachfolgen.

Dass diese Predigt kein Nachklapp fünf Tage nach dem Valentinstag ist, hatte ich bereits gesagt. Eine andere Beobachtung ließ mich aber innehalten und unsern Predigttext in einem anderen neuen Licht sehen. Wir lesen den 1. Kor. 13 heute in diesem Gottesdienst genau fünf Tage vor dem Datum, an dem sich der Angriff Russlands auf die Ukraine jähren wird. Paulus schrieb von Ferne für die Gemeinde in Korinth. Vielleicht schrieb er auch für Kiew. Wahrscheinlich schrieb er auch für Moskau.

Der Predigttext für den Sonntag Estomihi, den ich zum Abschluss dieser Predigt in der Übersetzung von Luise Schottroff lesen werde, steht im 1. Brief des Paulus an die Korinther, Kapitel 13, Verse 1-13:

„Wenn ich wie ein Mensch rede oder wie ein Engel und bin ohne Liebe, bin ich ein schepperndes Blech und eine gellende Zimbel. 2 Und wenn ich die Gabe habe, die Zeichen der Zeit zu deuten, und alles Verborgene weiß und alle Erkenntnis habe und alles Vertrauen, so dass ich Berge versetzen kann, und bin ohne Liebe, dann bin ich nichts. 3 Und wenn ich alles, was ich kann und habe, für andere aufwende und mein Leben aufs Spiel setze selbst unter der Gefahr, verbrannt zu werden, und bin ohne Liebe, hat alles keinen Sinn.

4 Die Liebe hat einen langen Atem und sie ist zuverlässig. Die Liebe ist nicht eifersüchtig, sie spielt sich nicht auf. Sie will andere nicht beherrschen. 5 Sie handelt nicht respektlos anderen gegenüber. Sie ist nicht egoistisch, sie wird nicht jähzornig, sie ist nicht nachtragend. 6 Sie freut sich nicht, wenn Unrecht geschieht. Vielmehr freut sie sich mit den anderen an der Wahrheit. 7 Sie ist fähig zu schweigen, tief zu vertrauen, sie hofft mit Ausdauer und Widerstandskraft.

8 Die Liebe gibt niemals auf. Prophetische Gaben können zerstört werden, Sprachen können ausgelöscht werden, Erkenntnis kann verhindert werden. 9 Wir erkennen nur Bruchstücke und unsere Fähigkeit, die Zeichen der Zeit zu deuten, ist begrenzt. 10 Wenn aber die Vollkommenheit kommt, dann hört das Zerrissensein auf. 11 Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, urteilte wie ein Kind und machte mir Gedanken wie ein Kind. Als ich erwachsen wurde, wurde zerstört, was kindlich war. 12 Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin. 13 Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. Die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu. Amen.

Dr. Almuth Märker

Prädikantin an St. Thomas

almuth.maerker@web.de