Predigt über Klagelieder 3, 22-33

  • 19.09.2021 , 16. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrerin Britta Taddiken

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis über Klagelieder 3,22-33 (19. September 2021)

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Tauffamilien, liebe Thomasser, liebe Gemeinde,

wie einige wissen, war ich knapp elf Monate außer Dienst wegen einer Krebserkrankung. Das war ein schwieriges Jahr. Aber ich habe auch viel gelernt. Auch und gerade Gutes! Sie brauchen nicht zu befürchten, dass ich Sie und Euch jetzt in jeder Predigt damit belämmere. Aber heute tue ich es doch. Der Predigttext aus den Klageliedern Jeremias bringt da nämlich so dermaßen etwas auf den Punkt, was ich meine begriffen zu haben. Und manche von Ihnen sicher auch, denn was krank sein heißt oder seinen Partner/Partnerin dabei zu begleiten – das kennen einige. Was ich begriffen habe, klingt simpel: Es ist nicht selbstverständlich, dass mir nicht schlecht ist. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich mich anstrengen kann und will – und nicht nur auf dem Sofa rumhänge. Ich wusste schlicht nicht, wie es ist, wenn es einem wirklich mies geht. Und wie wunderbar der Moment ist, wo sich das Blatt wieder wendet ein paar Tage nach der Chemotherapie. Geradezu „köstlich“, um es mit den Worten unseres Predigttexts zu sagen: „Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.“ Ich freue mich jetzt über jede Minute, wo mir nicht schlecht ist und ich mich anstrengen kann. Und ich habe noch mal neu begriffen: Es ist wichtig, den Dank darüber auch auszusprechen. Gott gegenüber. Und mir das auch selbst in die Ohren zu sagen. In diesem Spannungsfeld zu leben, davon ist in unserem Predigttext die Rede, wir haben ihn schon gehört, aber zur Erinnerung noch einmal.

22 Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. 24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. 27 Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage. 28 Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt, 29 und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung. 30 Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun. 31 Denn der Herr verstößt nicht ewig; 32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. 33 Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen.

Wir sollten sie zunächst etwas einordnen, diese Worte. Sie stammen von jemandem, der die große Katastrophe vom Untergang Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. miterlebt hat. Die Babylonier hatten die Stadt eingenommen, Häuser und den Tempel nahezu dem Erdboden gleich gemacht und große Teile der Bevölkerung nach Babylon ins Exil verschleppt. Hier redet jemand, der alles verloren hat, Besitz, seine Lebensplanung und seine religiöse Verwurzelung. Und so hadert dieser Mensch bis zu diesen Versen in den Klageliedern mit der Situation, er betrauert das Schicksal der schönen Stadt und ihrer Menschen.

Aber er weiß offenbar auch – da scheint dann doch das auf, was er mal in religiöser Hinsicht gelernt und verinnerlicht hatte. Gott, „Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir’s, dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch.“ Dieser Mensch erinnert sich an das, was ihn schon einmal getragen hat. Offensichtlich weiß er mit dieser Situation umzugehen, auch wenn sie schlimmer sein mag als alles, was er zuvor erfahren hat. Er ist „leidgeprüft“, wie man so sagt. Aber auch leiderfahren. Er hat Erfahrung – alles ist und bleibt in meinem Leben möglich. Vor allem kann alles neu beginnen für mich in dem, wie ich mein Leben betrachte. Wenn ich damit rechne, dass Gott mir treu ist und barmherzig ist und bleibt, auch wenn ich das auf ganz neue und ungeahnte Weise erfahre. Auch mitten in solchen besch… Zeiten! Auch das, was ich darüber gelernt habe, finde ich in diesen Worten der Klagelieder wieder. Vor allem auch in den erst mal befremdlichen Versen 27ff. Da kommt auch das Wort „köstlich“ vor. Aber ganz anders als vorher. „Köstlich“ ist es danach, das Joch in der Jugend zu tragen, einsam zu sitzen und zu schweigen, den Mund gar in den Staub zu stecken und sich viel Schmach antun zu lassen.

Ich verstehe das so:

Zum einen: Es geht darum, dass es im Leben Zeiten gibt, da bin ich einfach mit Zuhören dran. Habe mir etwas sagen zu lassen und das einfach mal zu hören. Selbstkritisch zu sein, hinzugucken, was ist und was war da eigentlich los. Der Versuchung widerstehen, gleich loszublubbern, mich zu rechtfertigen und die Dinge schön zu reden, von mir weg zu lenken oder was weiß ich. Auch die Jerusalemer waren gewarnt worden damals von ihren Propheten, was geschehen würde mit ihrer Stadt, sie aber wollten es nicht hören – und konnten folglich auch nicht darüber nachdenken, wie sie Dinge hätten abwenden können.

Ja, es gibt diese Zeiten zum Hören und Verstummen und die Bibel ist voll von Beispielen dafür. Denken wir an Zacharias, den Vater Johannes des Täufers. Er konnte nicht glauben, in seinem Alter noch einen Sohn zu bekommen. Er war so festgelegt auf seine beschränkte Sicht auf Mögliches und Unmögliches, dass Gott ihm quasi eine Schweigephase verordnet hat. Wo er sprichwörtlich zur Ruhe kommen konnte und wahrnehmen, was jetzt Neues und Großes an ihm passierte von Gott. Das passiert ja wirklich manchen Menschen: dass sie für eine Zeit ihre Stimme verlieren, nicht reden können und auch nicht sollen.

Und dann ist da natürlich Maria, die Mutter Jesu. Die  schafft es ganz anders als ihr männliches Pendant, mit der unmöglichen Botschaft umzugehen, sie solle den Sohn Gottes gebären. Sie verstummt auch, denn darauf kann man nichts sagen. Aber sie beginnt sofort, die Worte des Engels in ihrem Herzen zu bewegen. Und das geht ja auch nicht, wenn man selbst die ganze Zeit redet.

Und das zweite, was hier denke ich wichtig ist, gerade für unsere Zeit und da gilt es, die Ohren aufzusperren, liebe Thomasser, liebe Konfis: Dass man das, was Zacharias im hohen Alter und Maria als junge Frau lernen, am besten schon sehr viel früher lernt: in seiner Kindheit und Jugend. Dass es Momente gibt, wo wir zuhören sollten und zwar genau. Und zwar auch auf das Unangenehme. Auch auf das, was uns unsere persönlichen Niederlagen zu sagen haben, wo uns etwas peinlich ist oder es einfach nur wahnsinnig wehtut, was ein anderer mit uns gemacht hat. Frustrationstoleranz lernt man am besten so früh wie möglich. Und immer gleich mit zu überlegen, wie gesagt, wenn man poltert oder zurückschnauzt wird das schwierig: Wie kann ich eigentlich aus dieser mistigen Situation stärker herauskommen als ich jetzt bin? Das bewahrt mich nämlich vor einer großen Gefahr und die ist bei uns heutigen evident: Dass wir uns nämlich selbst nur als Opfer verstehen. Ungerecht behandelt, falsch verstanden, nicht gewürdigt usw. Klar: Das passiert uns natürlich und jeder jammert mal und hat seine Momente, da kann er oder sie nicht anders. Aber es ist ein Unterschied, ob ich in dieser Opferhaltung verharre und den Rest der Welt dafür verantwortlich mache oder zumindest die Sündenböcke, die ich dafür ausgemacht habe – oder ob ich einfach erst mal nachdenke, was mich wieder stärker machen kann.

Einen ersten Schritt zeigen uns die Klagelieder auf und auch solche Psalmen, wie wir einen zu Beginn in der Vertonung von Heinrich Schütz gehört und gebetet haben: Ich darf, nein, ich muss auch mal klagen und jammern. Der kluge Rat dieser biblischen Texte ist aber, es immer wieder auf Gott zu richten und sich bei ihm zu entlasten. Es ist gut, ja durchaus ein Segen, dass die Romantik und dann später in anderer Form Siegmund Freud, C.G. Jung und andere entdeckt haben, wie wichtig es für uns Menschen ist, Gefühle zu leben, sie auszudrücken und mit anderen ins Gespräch zu kommen darüber. Aber in dem Ganzen kann der Bogen auch überspannt werden. Wir erleben, wie dringend zu führende Debatten vor allem von Befindlichkeiten bestimmt werden. Nicht nur in der Genderdebatte, da aber natürlich besonders. Es fliegt uns nämlich irgendwann um die Ohren, wenn wir vor lauter Umschiffung möglicher Beleidigungen und Herabsetzungen, die wir gar nicht beabsichtigen, den notwendigen Streit um die Sache gar nicht mehr führen - den wir aber führen müssten um derentwillen, die unstreitig gekränkt, gedemütigt und diskriminiert werden. Wo wir dem anderen absprechen, überhaupt „gesprächswürdig“ zu sein für uns – da kommt man eigentlich nicht mehr raus. Wo soll man da neu anfangen?

Gottseidank aber gibt es Worte wie diese hier im Alten Testament. Die wissen: Nichts ist aussichtslos. Und auch aus der Not wird Neues geboren. Auf jede Nacht folgt ein Morgen. Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23 sondern sie ist alle Morgen neu. Es lohnt sich, da noch mal genau hinzuschauen. „Gottes Güte ist alle Morgen neu.“ Sie ist es für uns – immer wieder neu. Wir können sie immer nur von neuem wahrnehmen – und immer wieder mit dem Anfang anfangen. Denn: Hier steht nicht „Gottes Güte ist eines Morgens neu und dann wirklich ein für alle Mal für uns unverlierbar.“ So gewiss leben zu können, das wünschen wir uns. Aber wir erfahren es nicht unbedingt so. Und das wissen wir eigentlich auch und wünschten, es wäre trotzdem anders. Aber hier verspricht der Text nicht zu viel und sagt schon sehr ehrlich: Es kann auch anders sein. Wir können in den Momenten unserer Trauer und unserem Schmerz auch feststecken und in manchen Phasen gar nichts sehen und auch nichts hören wollen von Gottes Güte und Barmherzigkeit. Und es klingt für uns wie Hohn, wenn uns damit einer kommt.

Der hier in den Klageliedern spricht, kennt das. Und er weiß, was in solchen Momenten manchmal schon reicht: nach Gott Sehnsucht zu haben. Einfach, dass er für mich da sein möge. „Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele“ - die Seele, das ist mein Innerstes, die Kraft, die mich am Leben hält. Und wenn sie noch so schwach ist - sie reicht aus. Das ist wie mit dem Senfkorn an Glauben vom letzten Sonntag, bei dem die Saat sich unaufhaltsam und in Windeseile ausbreiten kann und alles durchwächst. Und dieser Moment, das wieder erleben und spüren zu können - das ist, liebe Gemeinde, einfach „köstlich“ bzw. kostbar. Man kann sich – erinnern wir uns an das Evangelium - gar fühlen wie Lazarus, der dem Tode schon so verfallen war, dass es alle riechen konnten. An ihm ist zeichenhaft geschehen, was durch Jesus selbst klar ist und schon gilt in dieser Welt: Der ganz neue Morgen, der Ostermorgen, er wirkt schon in uns und an uns. Er hat diesen unseren elenden Lebensgefährten wie Krebs und anderen ihren letzten Anspruch auf uns genommen, auch wenn sie uns plagen und möglicherweise sterben lassen. Ich lebe mit der Prognose 50:50 in fünf Jahren noch zu leben oder auch nicht – für andere liegt der Zeitpunkt noch näher. Aber wer weiß das schon? Wie auch immer: Es kann trotzdem weitergehen, denn was das betrifft, ist schon alles geschehen. Die Güte des Herrn ist ja neu, sie ist es in Jesus, sie ist es in seinem neuen Leben bei Gott, das auch uns verheißen ist. Seine Güte ist neu, ein für alle mal. Da ergänzt die Geschichte des Lazarus die Erfahrung der Klagelieder. Sie ist neu und sie ist da. Das ist der Grund, von dem aus wir unser Leben jetzt und zukünftig weiter gestalten können. Dazu helfe und stärke uns der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Pfarrerin Britta Taddiken