Predigt über Markus 2,1-12

  • 10.10.2021 , 19. Sonntag nach Trinitatis
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Predigt über Mk 2,1ff am 19. Sonntag nach Trinitatis – Ehrenamtssonntag- St. Thomas zu Leipzig um 09.30 Uhr und 18 Uhr

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

 

Liebe Gemeinde, liebe Ehrenamtliche,

selber schuld. Wenn alles in Ordnung wäre mit dir und deinem Umfeld, dann wärest du auch nicht krank. Wie ein scharfes Messer klingen solche Worte – nicht nur damals als die Geschichte von der Heilung eines Gelähmten aufgesammelt und von Markus zusammengestellt wurde. Schuldzuweisungen sind meistens wenig hilfreich, erst recht nicht bei einem Kranken, der Hilfe benötigt. Mag sein, dass es Kausalitäten zwischen bestimmten Lebensweisen und Krankheit geben kann. Pauschal lässt sich das aber nie verallgemeinern. Der stets auf seine Gesundheit bedachte bekommt plötzlich Krebs und die Kettenraucherin wird 90 Jahre alt. Das ist auch unser Erfahrungshorizont. Schuldzuweisungen bringen dem Kranken nichts, außer dass sie Zeugnis geben von einer großen Unsicherheit der Hilflosen, die mit seiner Krankheit nicht umzugehen wissen.

Zur Zeit Jesu galt Krankheit als Folge von Sünde. Wo das Verhältnis zu Gott durch Schuld belastet ist, ist Krankheit eine Folge davon. Das kann dann wirklich krank machen. Weil dem Kranken neben all der zu tragenden Last eines schwierigen Alltags auch noch die Verantwortung für diese Situation aufgeladen wird. Der an die Grenzen seines Verstehens Kommende ist über einfache Denklösungen meist hocherfreut. Du machst Fehler vor Gott – deshalb bist du krank.

Da schreitet Jesus ein und durchbricht dieses alte Denkmuster. Deshalb ist die heutige Predigtgeschichte so wertvoll. Denn sie will uns Augen öffnen für eine neue Sichtweise.

Sie will verstopften Ohren den Zugang zum Wort ermöglichen. Sie will befähigen, neu ins Leben zu gehen. Betrachten wir das heutige Evangelium aus 3 Blickwinkeln.

 

Wie viele Freunde braucht ein Mensch

in der Not?

Unsere Geschichte aus dem Markusevangelium erzählt von vier Freunden. Für jede Himmelsrichtung ein Freund oder eine Freundin. Sie finden sich mit der Not des Kranken nicht ab. Vielmehr schauen sie nach ihren Möglichkeiten und tragen ihn durch die Krankheit. Mehr braucht es nicht, weniger aber ebenso wenig. Dieses durch die Krankheit Tragen kann dann ganz unterschiedlich aussehen. Besuch und Gespräch, Hilfe im Haushalt, Ermunterung und Antrieb zur Aktivität. Aber: Es kann auch schnell zu viel werden. Vielleicht wird deshalb von vier und nicht von vierzig Freunden erzählt.

Bemerkenswert ist, dass die Freunde einen gesunden Realismus haben. Sie erkennen sowohl ihre Grenze wie auch ihren Auftrag.

Der Auftrag besteht darin, ihren Freund nicht aufzugeben. Weil er ihnen wertvoll ist.

Das reicht sogar so weit, dass sie ihn auch dann nicht aufgeben als er es vielleicht schon selber getan hat. „Ach lasst mich doch in Ruhe. Lasst mir meine Matte. Lasst mich auf meiner Matte.

Ich habe mich mit der Situation abgefunden.“

Das phantastische an wirklichen Freunden ist – sie geben keine Ratschläge im Sinne von

 „du musst das jetzt so machen oder so“. 

Sie sagen auch nicht „Du musst dich zusammenreißen“ oder „hab dich nicht so“. Vielmehr sehen sie, wo ihre eigene Grenze ist und schauen dennoch auf einen Ausweg.

Diesen beschreiten sie mit aller Konsequenz.

Auch das vermeintlich unüberwindbare Hindernis hindert sie nicht daran, an ihrem Vertrauen festzuhalten.

„Hier ist unser Freund. Wir kommen nicht weiter mit unserer Hilfe. Aber wir glauben, dass Du es kannst.“ Indem sie Jesus aufs Dach steigen, machen sie ihm das überdeutlich.

Der Kranke bekommt nun eine direkte Ansprache. Kein mitleidiger Blick, keine Vorwürfe, keine Schuldzuweisung.

„Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“ heißt doch in diesem Zusammenhang nichts anderes als „Egal was gewesen ist, ich schaue dich an und sehe dich als mein geliebtes Menschenkind. Das bleibst du immer. Niemals wirst Du aus diesem Verhältnis herausgerissen werden. Und auch wenn der Tod mit seinen Klauen nach dir greifen würde, sterbe lieber ich als dass ich dich ihm für immer überlasse.“

Wahrhaft göttliches Evangelium, liebe Gemeinde!

Die direkte Ansprache ist der Baustein für die Brücke zurück ins Leben. Der Kranke steht auf und kann über sie gehen. Endlich nach Hause. So wie Jesus endlich wieder zu Hause ist in Kapernauum, so kann der Kranke auch wieder nach Hause gehen. Das muss ein großartiges Gefühl sein, nach langer Krankheit den Lebensalltag wieder weitestgehend selber bestimmen zu können als ihn sich von Behandlungsplänen bestimmen lassen zu müssen. Von den Freunden ist nun nicht mehr die Rede. Sie haben ihre Aufgabe erfüllt.

 

Wenn die heile Welt der Verkündigung einen Dachschaden bekommt

Ein zweiter Blickwinkel auf diese symbolhafte Heilungsgeschichte ist ein ganz anderer.

Der Kranke, das ist unsere Kirche. Sie liegt auf der Matte, gelähmt, kaum noch fähig, sich zu bewegen. Einen Ausweg findet sie alleine nicht. Aber der Gemeinde ist das nicht egal, erst recht nicht dem ehrenamtlichen Engagement.

Dafür können die vier Trägerinnen auch stehen. Ich sage bewusst Trägerinnen, weil die Säulen ehrenamtlichen Engagements in Kirche und Gemeinde meistens weiblich sind.

Doch was nun? Der Zugang ist versperrt. Versperrt von einer Menge, distanziert interessiert. Versperrt auch von Bürokratie und gängelndem Verwaltungshandeln. Versperrt von denen, die immer wissen, was für andere gut ist.

Der Zugang zu Jesus Christus ist jedenfalls auf herkömmliche Weise nicht möglich. Das ist ein Skandal. Denn so kann dem Patienten nicht geholfen werden. Eine ungewöhnliche Situation erfordert eine ungewöhnliche Maßnahme. Deshalb wird Jesus aufs Dach gestiegen und der gewohnte Trott bekommt ein Loch, damit der Himmel wieder sichtbar wird.

Hier ist sie, deine Kirche, lieber Herr Jesus.

Hilf Du ihr! Heile sie! Wir wissen nicht mehr weiter. Wir rackern uns ab, jeden Tag, tragen alle Lasten schwer – aber gemeinsam, machen Vorschläge und suchen nach Lösungen. Dennoch bleibt alles starr und wird behindert.

 

Ich stelle mir vor, die Geschichte wäre nun anders ausgegangen: Die Schriftgelehrten bedanken sich bei Jesus für die neue Sichtweise des Evangeliums von der Liebe Gottes. Sie unterstützen ihn und stimmen ein in die frohe Verkündigung. Sie erkennen den neuen Weg, der zurück in selbstgestaltete Lebendigkeit führt und sind eine Stimme im großen Lobpreis Gottes.

Ja, ich weiß – das ist ein Traum.

Die Realität sieht leider anders aus. 

Die Gesetzeshüter sind unfähig über ihre festgefahrene Meinung hinaus überhaupt denken zu wollen, geschweige denn denken zu können.

Nicht dass Gesetze keinen Sinn machen. Sie geben Halt und schützen die Schwachen. Sie geben Orientierung und Ordnung, damit Leben gestaltet werden kann. Aber, liebe Gemeinde, wo letzteres nicht mehr möglich ist, nämlich Leben selber gestalten zu können, wo Vorschriften starr bleiben und nicht mehr dem Menschen dienen, verlieren sie ihre Daseinsberechtigung.

Jesu Ansprache ist aufrichtig und dadurch aufrichtend.

Steh auf und geh nach Hause ins Leben.

Das wünsche ich uns, liebe Gemeinde, dass wir aufstehen und nach Hause gehen, um Gemeinde zu leben und lebendig zu halten. Denn nur so kann Kirche auch in schwierigen Zeiten überleben. Die Repressalien, denen sie ausgesetzt ist, sind so schmerzhaft wie die Worte von eigener Schuld in Krankheit. Aber ein starker und unerschütterlicher Glaube, verbunden mit ideenreicher Tat wird zum Ziel führen.

Mögen die Bürokraten noch so wettern, mögen Machtstreben und Starrsinn noch so groß sein, ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit dem nötigen Druck und ungewöhnlichen Maßnahmen, am Ende Gehör und Heilung finden werden.

Jesus richtet seine Kirche wieder auf, indem er sie anspricht und indem er den Glauben der Trägerinnen sieht. Denn dieser ist, Gott sei Dank, noch nicht verloren gegangen.

Er ist so groß und tatkräftig. 

 

Und noch ein dritter Blickwinkel auf unsere heutige Geschichte

Lähmende Gewohnheit

Nun liegt er da – einer, der nicht mehr kann. Dem die Kräfte fehlen für den Alltag. Unter den Lasten des Lebens ist er lahm geworden, kann nichts mehr tun, als denn liegen. Alles drückt ihn nieder – die Erwartungen, die Aufgaben, Verpflichtungen, Ängste, Sorgen. „Das raubt mir alle Kräfte“, höre ich manchmal sagen. Die Krankheit des Gelähmten steht symbolisch für all jene, denen die Kraft geraubt wird durch zu viele Aufgaben, durch kaputte Beziehungen, durch ein ständiges „immer-mehr-wollen“.

Es ist schon eine wirklich blöde Krankheit, wenn ich sehe, was anders sein müsste, aber nicht die Kraft habe, es zu ändern. Der bewegungslos ans Bett gefesselte Mensch braucht Hilfe. Sie könnte ihm gewährt werden, wenn da nicht die vielen Zuschauer wären. Regungslos stehen sie ihm im Weg und werden zum unüberwindbaren Hindernis. Die Freunde jedoch steigen dem Heiler aufs Dach und machen damit deutlich:

Bis hierher können wir helfen. Jetzt bist Du dran.

Damit zerstören sie nicht nur die Andacht, sondern auch gleich das schützende Dach der Gewohnheit wird eingerissen. Gewinnen tun alle den offenen Himmel. Der am Boden liegende Kranke bleibt nämlich auch in seinem Sichtfeld eingeschränkt. Erst recht, wenn ihn zu viele andere umgeben. Doch der Himmel scheint ihm schon zu leuchten, weil das Dach aufgebrochen wurde.

Mit seinem ungewöhnlichen Aufstehen weitet sich nun auch sein Blick nochmals.

Die Schutzmauer des „Wir haben das schon immer so gemacht“ oder des „Bitte bloß keine Präzedenzfälle“ wird zuerst von den Freunden durchlöchert und Jesus zieht mit seinen Worten nach. Doch. Es geht anders als gewohnt.

Ich schaffe neue Wirklichkeit.

Steh auf und geh zurück ins Leben.

Verlass deine bequeme Matte und nimm dein Leben wieder selber in die Hand, weil es Dir von Gott neu geschenkt wurde.

Ganz gleich, liebe Gemeinde, zu welchem Blickwinkel sie sich stärker hingezogen fühlen. Am Ende steht immer der Lobpreis. Er steht deshalb da, weil Leben neu gelingt. Und das wird durch den nach Hause gehenden Geheilten für alle sichtbar. Darauf kann man nur singend antworten. Amen.