Predigt an Karfreitag zur Sterbestunde Jesu

  • 02.04.2021 , Karfreitag
  • Pfarrer Martin Hundertmark

Predigt zur Sterbestunde Jesu am Karfreitag 2021 „I QUE ES LA VERITAT?“

Zum 100. Todestag des Baumeisters Antoni Gaudi im Jahre 2026 war die Fertigstellung der Sagrada Familia in Barcelona geplant. Dann wären es 144 Jahre Bauzeit bis zur Vollendung dieses monumentalen Werkes. Kirche atmet in Jahrhunderten, erst recht wenn es um Bauwerke geht. Nähert man sich diesem imposanten Zeugnis abendländischer Kultur- Bau- und Religionsgeschichte so sieht man schon von etwas weiter entfernt den Eingang. In katalanischer Sprache ist die Passionsgeschichte nach Johannes abgebildet. Hervorgehoben ist ein Satz des Pontius Pilatus: „I QUE ES LA VERITAT?“ – Was ist Wahrheit?

Antworten auf diese Frage sind schwer zu finden. Und wer sie leichtfertig ausspricht, ist meist nicht wirklich an der Wahrheit interessiert.

Ist Wahrheit das, was sich mir aus Fakten erschließt?

Ist Wahrheit das, was ich selber deute?

Ist Wahrheit unwandelbar?

Werden Worte zur Wahrheit, nur weil sie ex cathedra gesprochen wurden?

Unser ganzes Leben lang sind wir auf der Suche nach Wahrheit. Dabei lernen wir. manchmal sehr schmerzhaft, dass das, was uns als Wahrheit einleuchtete jämmerlich zerschellen kann. Auch die Masse bestimmt nicht die Wahrheit, oder doch?

Jesus wurde zu Beginn der Woche als König umjubelt, als rettender Messias gefeiert.

Die elektrisierte Menschenmenge war nicht zu bremsen. Im Jubel geht die eigentliche Botschaft sehr schnell unter.

Klein ist oft der Schritt vom Jubelruf zur anderen Wahrheit. Er wandelt sich in Verachtung und Hass, weil die erhoffte Wahrheit sich ganz anders darstellte. Natürlich sagt Jesus die Wahrheit, wenn er vom Reich Gottes spricht und Frieden verkündet, der sich anders anfühlen soll als die pax romana.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sein Reich eben nicht von dieser Welt ist und sein Friede im Herzen einzieht und so zum Friede für die Seele wird.

Die letzten Tage, Wochen, ja Jahre haben in unterschiedlicher Intensität gezeigt, wie schwer es ist, zwischen behaupteter Wahrheit und faktischer Wahrheit zu unterscheiden.

2 Halbwahrheiten werden eben nicht automatisch zu einer Wahrheit, wenn man sie zusammenfügt. Sie bleiben im dunklen Schatten des Diffusen. Halb-Wahrheit ist keine ganze Wahrheit. Daran ändert auch nicht deren Wiederholung. Nur weil viele Menschen etwas behaupten, wird diese Behauptung nicht automatisch zur Wahrheit. Martin Luther konnte davon vor 500 Jahren auf dem Reichstag zu Worms ein Lied singen als er vor dem Kaiser stand.

„Man muss doch noch die Wahrheit sagen dürfen“ ist in den letzten Monaten oft zu hören. Dahinter steckt dann aber leider nichts anderes, als: Deine Meinung interessiert mich überhaupt nicht. Leider verwechseln dabei auch viele Zeitgenossen gelegentlich die persönliche Meinung mit absoluter Wahrheit bzw. machen sie zu einer solchen.

Wahrheit speist sich aus Fakten und ändert sich, wenn neue Erkenntnisse gewonnen werden. Das zu akzeptieren ist gelegentlich ein sehr schmerzlicher Prozess.

Zur Wahrheit am heutigen Karfreitag 2021 zählt auch, dass immer noch alle Zehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren an Hunger stirbt. Während des Gottesdienstes werden es über 300 Kinder sein.

Vielleicht helfen solche brutalen Wahrheiten, Dinge, die einem selber beschwerlich sind, einzuordnen und ihnen das richtige Gewicht zu geben. Natürlich ist Leid immer individuelles Leid und ich möchte keinesfalls Leid gegeneinander ausspielen. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass wir uns in der Corona-Krise mit all ihren Verwerfungen und auch bitteren Einschränkungen gerne die Lücken suchen und stets eine Begründung finden, warum das oder jenes jetzt für mich nicht gelten soll. Zwangsläufig tritt dann das Leid anderer Menschen in den Hintergrund.

Sie klingt nicht wohl in unseren Ohren, die Wahrheit, dass es noch ein langer Weg ist, bis wir diese Pandemie überwunden haben und dass dieser Weg je länger wird, je weniger wir bereit sind, ihn konsequent, gemeinsam und vor allem solidarisch zu gehen.

Dabei werden wir noch oft mit der Frage „Was ist Wahrheit? konfrontiert werden.

In der Frage des Pilatus „Was ist Wahrheit?“ schwingt gewiss auch die Frage nach absoluter Wahrheit, nach göttlicher Wahrheit mit.

Am Karfreitag erweist sich göttliche Wahrheit und Vollmacht als ans Kreuz genagelte enttäuschte Hoffnung. Für alle unter dem Kreuz Stehenden kann es gar nicht anders aussehen als dass Jesus Lügen gestraft wurde. Niemand greift ein. Die Karfreitagswahrheit bricht sich im Schrei des Sterbenden Bahn. Der Sieg der Todesmacht über die Frohe Botschaft von der Liebe Gottes kann kaum offensichtlicher sein beim Anblick des elendich sterbenden Jesus am Kreuz. Und der offene Himmel verhüllt sich in Dunkelheit. Gott ist so fern wie nur irgendwie denkbar. Daran hat sich bei den sich zum Kreuz begebenden Menschen auch heute nichts geändert.

Das gilt es auszuhalten. Den Leidenden werden wir dadurch gerecht, wo wir ihr Leid auch ernst nehmen, wenigstens einmal im Jahr.

Tod, Folter, Vertreibung, Misshandlung – sie zählen zum Alltag einer Weltgemeinschaft, die immer wieder in der Gefahr steht, ihre Werte ans Kreuz zu nageln. Amen.