Predigt im Abendgottesdienst

  • 19.08.2018 , 12. Sonntag nach Trinitatis
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,
fast fünf Jahre ist es nun schon her, dass ich am 1. September 2013 in einem Gottesdienst in mein Ehrenamt als Prädikantin eingeführt wurde. Fünf Jahre - das ist aus meiner Sicht eine lange Zeit, und ich denke, ja: ich habe ganz stark das Gefühl, dass ich heute eine andere in diesem Amt bin als damals. Wie aufregend und kräftezehrend war es damals, auf einen Gottesdienst zuzugehen und dann selbst auf die Kanzel zu steigen! Aufregend ist es immer noch, auch Kraft kostet es natürlich, und doch habe ich mich eben auch verändert. Warum eigentlich? Ich bin doch dieselbe, ich bin mir doch treu geblieben, meinem Ich mit seinen Gaben und mit seinen Ecken und Kanten.

Was hat mich verändert?

Nun könnte man sagen, die zunehmende Übung, vielleicht sogar ein bisschen Routine - sofern sich aller 2 Monate Routine einstellen kann - hätten das bewirkt. Ja, schon. Ich glaube aber, dass es etwas anderes ist, das bewirkt, dass es mir heute - 5 Jahre nach meiner Einführung - so vorkommt, als sei ich eine andere als damals.

Es ist der regelmäßige und tiefe Umgang mit dem Wort Gottes. Es ist die herzensmäßige und geistige Auseinandersetzung mit dem, was in der Bibel steht, und zwar in einer Tiefe, wie es sie vorher in meinem Leben nicht gegeben hat. Dieses Eintauchen in die Geschichten der Bibel, dieses Ringen damit, die theologisch schwierigen Stellen zu verstehen. Und - das ist dann eben immer wieder die größte Herausforderung - das Übersetzen, das öffentliche Hinterfragen, das Auslegen, das Predigen.

Auf der Kanzel muss ich zu meinem Wort stehen.
Auf der Kanzel muss ich zu Gottes Wort stehen.

Danke, liebe Gemeinde, dass ich aus einem zugegeben persönlichen Anlass - der 5. Wiederkehr meiner Einführung - die Predigt mit diesem Bekenntnis beginnen darf. Es gibt aber darüber hinaus einen weiteren Anlass, das so zu tun: Heute haben wir im Gottesdienst am Vormittag und bei einem anschließenden Fest mit Essen und Trinken zum ersten Mal in dieser Form einen Ehrenamtssonntag begangen.

Mein Ehrrenamt als Prädikantin. Ich fülle es von Herzen gern aus. Und es - dieses Ehrenamt - erfüllt mich, mein Herz und meinen Geist, mein Reden und Tun in einer Weise, wie ich es mir vorher nicht hätte vorstellen können.

Der Predigttext für 12. So. n. Trin. steht in der Apostelgeschichte im 3. Kapitel (Apg. 3, 1-10):

„Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war."

Eine Heilungs-, eine Wundergeschichte. Ein Mensch lebt in einer unabänderlichen Situation, und das schon sehr lange, nämlich von Mutterleib an. Es ist schon immer so gewesen: Er ist gelähmt. Da ist nix zu machen. Er lebt in eingefahrenen Gleisen, wird jeden Tag vor den Tempel getragen, bettelt dort, erhält Almosen. Und kommt irgendwie klar. An dieser Stelle, vor dem Tempel, wo der Gelähmte Tag für Tag bettelt, gehen Petrus und Johannes vorüber. Der Mann erwartet Münzen. Die werden ihm verweigert. Stattdessen kommt es zu einem dramatischen Moment.

In diesem Moment kommt es zu einem Blickkontakt. Es geht um das Ansehen der Person. Und dieses Ansehen, dieser Blickkontakt ist die Voraussetzung für das Heilungsgeschehen: Petrus sagt: „Sieh mich an." (Das sagt er zu einem Gelähmten, nicht zu einem Blinden.) - „Und er sah ihn an." Das ist der Moment, der Blickkontakt ist hergestellt. Doch unklar ist noch die Blickrichtung. Die Blickrichtung, die Orientierung gibt Petrus vor durch den Satz: „Im Namen von Jesus Christus von Nazareth ..."

Dann nimmt Petrus den Mann bei der Hand. Er richtet ihn auf. Seine Knöchel und Füße werden fest.

Ich stelle mir vor, wie dieser gelähmte Mann zuvor bei dem kleinsten Versuch zu stehen oder gar mit Hilfe und unter größten Mühen zu gehen, immer weggerutscht ist. Wie seine Füße umknickten, die Knöchel wackelten, wie sein Körper bei einem Geh- und Stehversuch einfach weggesackt war.

Und nun? Seine Knöchel und Füße werden fest. Plötzlich hat er ein stabiles Fundament, plötzlich steht er nicht mehr auf wackeligem Grund. Der Mann macht die Erfahrung ganz körperlich, dass Gott das geknickte Rohr nicht zerbricht. Plötzlich spürt er Festigkeit in sich und hat keine weichen Knie mehr.

Sie merken, liebe Gemeinde, wie die Formulierung jetzt langsam ins Metaphorische abgleitet, wie ich Vergleiche und Bilder gebrauche. Das mag Sie entrüsten, und diese Entrüstung hat ihre Berechtigung:

Dieser Mann, für den es lebenslang eine Qual bzw. unmöglich war, sich zu bewegen, der hatte im Wortsinn kein Stehvermögen. Und die weichen Knie sind eine tatsächliche körperliche Instabilität gewesen und nicht so eine Ängstlichkeit im übertragenen Sinn. Ihre Entrüstung gestehe ich Ihnen zu.

Aber schauen wir mit etwas Lebenserfahrung doch genauer hin: Überall dort, wo uns Beschwerden im Bewegungsapparat zu schaffen machen, wo unser Rücken nicht mehr mit macht, wo Füße und Knie schmerzen und den Dienst versagen - überall dort: Hat es dahinter nicht auch immer ein krisenhaftes Erlebnis in unserm Leben gegeben? Die Rückenschmerzen - da war die Last dann oft zu groß, die zu tragen war. Oder dass die Beine den Dienst versagen - hatte da vielleicht jemand über Jahre hinweg Steine in den Weg gelegt bekommen?

Ja, es gibt ihn. Den Zusammenhang zwischen unsern beschwerten Seelen, unsern belasteten Herzen, unserm Übermaß an ertragenem Alltag und dem, was unser Körper dazu sagt: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. „Sieh mich an", sagt Petrus „und im Namen von Jesus Chr. sage ich dir: steh auf." „Und seine Füße und Knöchel wurden fest" Da hat es ein Mensch wieder oder in unserer Geschichte der gelähmte Mann überhaupt zum ersten Mal in seinem Leben gewonnen: Das standing, das Stehvermögen, das Sich Behaupten können, das Zu sich stehen. Im Namen Jesu Christi.

Was in unserer Geschichte nun folgt ... Wie soll ich es beschreiben? Soll ich es „ein Feuerwerk der Bewegung" nennen? Diese Stelle hat für mich das Potential einer Lieblingsstelle: „Er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott." (V. 8)

- aufspringen
- stehen können
- gehen
- in den Tempel gehen
- laufen - umher springen
- Gott loben
Das ist wirklich ein Feuerwerk der Bewegung. Liebe Gemeinde, kann es sein, dass unsere Art, Gottesdienst zu feiern, zu einem trägen, müden, passiven Klump verkommen ist? Wo ist das alles?
aufspringen - Gott loben
stehen - Gott loben
gehen - Gott loben
laufen - Gott loben
umher springen - Gott loben

Der lebenslang gelähmte Mensch, er kann gar nicht anders, als Gott mit seinem Gehen, festen Stehen, Hüpfen, Springen zu loben.
Ich wünschte mir so sehr, dass wir um Gott zu loben noch mehr unsern Körper einsetzen. Es gibt es das ja schon in Ansätzen.
- Singschule St. Thomas: im Chor singen, Luft holen, Atem strömen lassen,
 - im Tanzkreis der Thomasgemeinde
- beim Pilgern, gehen, schweigen, reden.

Gott loben unter Einsatz unseres ganzen Körpers, unter Einsatz unserer ganzen Lebenskraft. Das ruft in mir ein schönes Bild wach:

Kinder breiten im Kindergartenalter manchmal ihre Arme weit aus und imitieren damit eine Flugbahn. Die Arme weit ausbreiten, einmal im Düsenflug die ganze Gemeinde umrunden und ein lautes „Halleluja - Gelobt sei Gott" ausrufen. Über ein solches Lob wäre Gott, die Ewige, zunächst verdutzt, doch dann sicher hoch erfreut, würde es doch mit dem ganzen Körper, wie er in der Schöpfung gedacht ist, vorgetragen.
Was bleibt von dieser Heilungsgeschichte? Es ist noch ein kleines Detail, das ich erst beim wiederholten Lesen entdeckte und bei dem mir fast die Spucke weg blieb: Dieser Mann betritt mit seiner Heilung zum allerersten Mal in seinem Leben den Tempel. 40 Jahre lang hatte er VOR dem Tempel verbracht, immer passiv, immer hingetragen, immer angewiesen. Und nun erst, im reifen Alter, geht er das erste Mal hinein, er ist IM Tempel, nicht mehr außen vor, er ist aktiv, gestaltend, rennend, springend, jubelnd.
Begonnen hatte ich mit der Erinnerung an meine Einführung ins Ehrenamt als Prädikantin vor 5 Jahren und an unseren Ehrenamtssonntag heute in der Thomasgemeinde. Auch dies, das Aktivwerden im Namen Jesu, ist als Ahaeffekt in unserer Heilungsgeschichte enthalten. Sie alle, liebe Gemeinde, kennen sicher irgendeine der vielen Heilungsgeschichten im Neuen Testament. Mal wird da ein Taubstummer geheilt und kann wieder sprechen. Mal ist es ein Gelähmter, der durchs Dach hinunter gelassen wird; ihm werden seine Sünden vergeben, und er kann wieder gehen. Und einmal wird eine ganze Gruppe Aussätziger geheilt, von denen dann nur ein einziger seine Dankbarkeit zeigt.

Aber - bitte genau hinsehen! - fällt Ihnen etwas auf? Das alles sind Geschichten, in denen JESUS heilt.

Hier aber, in unserer Heilungsgeschichte, ist es Petrus in Begleitung von Johannes, der die Heilung vollzieht. Es sind die Mitarbeiter Jesu, die in seinem Namen wirken. Es sind die Mitarbeiter, die hauptamtlichen und die ehrenamtlichen, an denen es ist, in Jesu Namen zu heilen, zu stärken, zu ermutigen, auf die Beine zu helfen.

Bleibt der Blick aufs Ende: „Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was dem Gelähmten widerfahren war."
Verwunderung und Entsetzen.
 Fragende Blicke, kopfschüttelndes Vorübergehen:
„Das kann nicht sein."
 „Hilfe, wenn das mal gut geht."
 „Das ist wider die Regel!"
 „Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!"
 „Der gehört eigentlich gar nicht hierher!"
Verwunderung und Entsetzen - das haben wir doch oft parat, wenn sich etwas nicht nach unserm, sondern nach Gottes Willen vollzieht.

Dann, liebe Gemeinde, wird es Zeit, dass ein Petrus an uns vorüber geht und sagt: „Sie mich an. Im Namen von Jesus Christus!" Lassen Sie uns dann nicht zu Boden blicken.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsre Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu. Amen.

Dr. Almuth Märker Prädikantin an St. Thomas, Leipzig