Predigt im Abendgottesdienst

  • 03.12.2017 , 1. Advent
  • Pfarrerin Jutta Michael

Liebe Gemeinde,worauf richten sich unsere Blicke im Advent?Leuchtreklamen buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Schaufensterauslagen werden ins Licht gesetzt, auf das sie uns verlocken. Weihnachtliche Illumination übernimmt die abendliche Straßenbeleuchtung. Doch die Schatten bleiben. Und das Dunkel dagegen ist umso stärker. Nein, wir lassen uns nicht täuschen nur weil plötzlich alles hell ist.Doch die Sehnsucht bleibt wach, dass in den vielen Kerzen und Lichtern eine Hoffnung zur Sprache kommt.Nein, diese Welt mit allem Leben ist nicht das Letzte ist, was möglich ist.Ja, es wird möglich sein, dass diese Welt erlöst wird. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit". Er wird all unsere Not zum Ende bringen. Zu einem guten Ende, weil er ganz Anderes, Neues bereitet.Weit geöffnet werden die Tore sein, Himmel und Erde werden eins.

Die Offenbarung des Johannes aus dem letzten Buch der Bibel nimmt in Visionen diese Sehnsucht auf.
Der Seher der Offenbarung sieht das Himmelstor offen stehen und sieht, was sich dahinter abspielt:
Ich lese aus dem 5. Kapitel, die Verse 1 bis 5:
Offenbarung 5, 1 - 5

Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.

Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?

Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen.

Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.
Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel."

Was sieht Johannes:
Der Weltenherrscher auf dem Thron hält in seiner rechten Hand ein Buch, beschrieben innen und außen.
Die sieben Siegel weisen das Buch als eine Urkunde aus.
Sie enthält Gottes Plan von der letzten Zeit der Menschheitsgeschichte. Diese alte Vorstellung verband sich mit der Hoffnung, dass es einen Sinn gibt für alles, dass sich zusammenfügt, was nicht zu begreifen ist.
Es wird einen geben, der würdig ist es zu öffnen, der den Plan kennt und zu einem guten Ende führen wird.

„Ein Buch mit sieben Siegeln", ist für uns, was wir nicht fassen mit dem Verstand; also all das Rätselhafte und Geheimnisvolle des Lebens:
wenn nicht zu verstehen ist, was uns wiederfährt,
wenn Fragen unbeantwortet bleiben.
Das macht unruhig und hilflos. Und angesichts dieses Nichtverstehens wächst Angst.

Was nimmt die Schatten? Was gibt Hoffnung?
Traumbilder ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich.
Gleichzeitig ahnen wir, getäuscht zu werden.
Können wir überhaupt immer alles sehen?
Uns dem Tröstlichen hingeben ohne Angst zu haben, von den Schattenseiten überwältigt zu werden?
Als Getäuschte verletzt zu werden?

Die Vision des Johannes macht das Sehen gewichtig. Gleichzeitig übt sie ein darin, wie es möglich wird, zu unterscheiden, was in den Blick zu nehmen ist und was dagegen nur ablenkt.
Sie bestärkt darin, dem zu trauen, was es hell macht in uns.

Der Seher Johannes ist auf die Insel Patmos verbannt.
Das hindert ihn nicht daran, mit Weitsicht auf seine Zeit und ihre Verwerfungen zu sehen.
Wir schreiben die Zeit um 100 nach Christus. So bezeichnen wir es heute. Doch für Johannes ist es die Zeit mitten im Wirken des Erlösers der Welt.
Er wird kommen, so beschreibt er es in seinen Offenbarungen.
Sein Kommen wird auslösen, dass Gott der Herr der Welten seinen Plan vollenden wird.
Noch herrschen die in Rom, welche die Christen als Gefahr für das Römische Reich sehen.
Die Glaubenden beunruhigen die Herrschenden, weil sie sich von deren Macht nicht einschüchtern lassen.
Von keiner Macht der Welt.
Die Herrscher reagieren, indem sie Hass schüren und Gewalt anwenden.
Doch sie erreichen damit nicht, dass der Gott des Lebens sich aus der Welt heraus hält.
Darauf vertraut der Seher. Und doch kann er sich nicht blind stellen. Zwischen dem, was er hofft und glaubt und dem, was er sieht und erlebt habt, klafft ein Graben.
Da hinein droht ihm alles zu stürzen, wonach er sich sehnt: Dass Gott endlich seine Gerechtigkeit durchsetzen möge.
Wie lange noch wird es wird es auf der Welt und unter den Menschen so sein wie es ist?
Der Seher Johannes weint angesichts der Bedrängnis und Ratlosigkeit, die ihn überfällt.
Die Tränen des Johannes, sie stehen für Leid und Schmerz in der Welt.
Sie stehen für alles Unerlöste.
Der Seher Johannes nimmt uns so mitten hinein in seine Vision.
Er sieht, wie es wirklich um uns steht:
Was war und was sein wird, die Welt und die Menschen darin, was geschehen ist und wie es einmal sein wird: Niemand kann es zusammenfügen.
Angst und Ohnmacht überwältigt den, der es erkennt und erleidet.

Wer wird dem Ganzen Sinn geben? Ist das überhaupt möglich?
Wer hat den Schlüssel zum Verständnis?
Wer kann es zu einem guten Ganzen fügen?
Johannes weint, weil ihm dies aufgeht angesichts des Buches, das mit Sieben Siegeln verschlossen ist.
Seine Tränen lassen nicht unberührt.
Emotionen bewirken, dass wir nicht distanziert reflektieren.

Die Tränen derer, die trauern und einsam sind,
die seelisch verletzt wurden, machen uns zu Mitfühlenden.
Und wir lassen die Fragen zu und ertragen, dass sie ausgesprochen werden.
Warum muss unter uns Streit, Missgunst und Kälte sein?
Warum leben wir so unachtsam und verantwortungslos?
Kann es nicht vermieden werden, dass Wohlstand auf Kosten der Mitmenschen und der Umwelt gelebt wird?
Warum können Völker und Religionen nicht friedlich miteinander leben? Und warum bereichern sich Menschen daran, dass dies so ist?

Der Seher Johannes hat viel gesehen.
Angesichts der bedrängenden Fragen, die statt Antworten nur wieder neue Fragen aufwerfen, weint er.
Tränen, die nicht kalt und abgeklärt darüber hinweg sehen, was vor Augen ist.
Tränen, die sich der Beruhigung widersetzen, es könne ja doch nichts gemacht werden.
Tränen, die sich der Gleichgültigkeit entziehen und sich solidarisch zeigen mit den Klagenden.
Tränen, die die Sehnsucht wachhalten, dass kommen wird, was heilt, tröstet und zusammenführt.
„Weine nicht!" so wird Johannes in seiner Vision angesprochen.
Gott kommt bald.
Tränen lösen das einseitige Gehaltensein im Gefühl auf und machen, dass der Blick sich wieder aufrichten kann. Johannes schaut nach vorn, auf den, der kommt.
Es gibt einen, der die Siegel öffnen kann.
Einen, der den Graben schon überbrückt hat.
Und noch bevor diese Welt vollendet wird durch Gottes endgültiges Kommen, ist er schon da.
Denn alles, was hier und heute noch trennt, ist nicht mächtiger als er.

Der den Tod besiegt hat, zeigt sich überall da, wo dieser uns den Glauben an die Macht der Liebe Gottes nehmen will.

Er ist der Löwe, stark und machtvoll, der überwunden hat was uns von Gott trennt.
Aus den Tränen wächst Zuversicht, sich dem Leben zuzuwenden, unvollkommen wie es ist, verwundbar wie wir sind.
Wo Sinn sich nicht erschließt und keine Vision die Sieben Siegel öffnet, überbrückt das Vertrauen, dass Jesus Christus mächtiger ist als alles Zerstörende und mit seiner Liebe schon da ist.
Worauf richten sich unsere Blicke in der Adventszeit?

Der Tröster in der Vision des Sehers verweist auf den Retter.
Er ist der, der unsere Tränen sieht, der sich uns zuwendet, ganz bei uns ist - und doch zugleich einer wie aus einer anderen Welt.

Er begrenzt das Geheimnis der Welt und hält es doch offen für seine Zukunft.
Er richtet uns auf und hilft, den Blick auf Neues hin zu wenden:
Der würdig ist, das Buch zu entsiegeln, wird kommen.
Er ist schon in dieser Welt mit allem Elend und aller Klage.
Er macht sie zu einem Ort für unser Leben in Schmerz und Sehnsucht, in Hoffnung und Erfüllung.
Der im Advent neu uns entgegenkommt, ist der, der schon immer da war.
So singen wir von diesem Wunder:
„Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt."
Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen

Pfarrerin Jutta Michael