Predigt im Abendgottesdienst am Pfingstmontag über Römer 8,1-2.10-11

  • 06.06.2022 , Pfingstmontag
  • Rev. Dr. Robert G. Moore

Predigt am Pfingstmontag

06. Juni 2022 um 18.00 Uhr

Thomaskirche zu Leipzig

Reverend Dr. Robert Moore, Gastpfarrer

 

Lesung: Römer 8, 1-2, 10-11

 

Liebe Pfingstgemeinde,

 

als ich an der Universität im Norden von Texas mit meinem Studium begann, kam ich mir zunächst vor wie eine verlorene Seele. Ich habe Musik studiert, musste aber auch die griechische Sprache erlernen. Ich habe englische Literatur studiert, aber auch Philosophie. Kein Wunder, dass ich auf die einfache Frage, auf welchen Beruf ich mich eigentlich vorbereite, keine klare Antwort geben konnte. Ich liebte Musik, aber ich habe herausgefunden, dass ich für einen Berufsmusiker nicht ausreichend begabt bin. Alt-Griechisch fand ich faszinierend. Die Philosophie hatte meine Augen geöffnet. Und natürlich: Ich mochte das Gemeindeleben in der Kirche schon als Kind und besonders als Student. So empfand ich den Beruf des Pfarrers als erstrebenswert. Aber ich war mir nicht sicher.

 

Das Problem war mein Vater. Er hat mich immer gedrängt, in die Wirtschaft zu gehen. Da würde ich sehr viel mehr Geld verdienen können als ein Musiker, ein Lehrer oder ein Pfarrer. Normalerweise habe ich immer das Gegenteil von dem gemacht, was mein Vater mir riet. Aber in diesem Fall war es anders. Ich brauchte die Anerkennung meines Vaters, seine Liebe. Ich dachte, wenn ich die richtige Entscheidung treffe, wenn ich in meinem Beruf erfolgreich bin, wenn ich viel Geld verdiene, dann würde das mein Vater anerkennen, mich lieben.

 

Nun musste ich zur Finanzierung meines Studiums arbeiten. Ich hatte eine gute Stelle bei einer Firma. Der Chef kannte mich aus der Studentengemeinde.  Nach zwei Jahren in der Firma wurde mir klar, dass der Chef mich auf eine Karriere in seiner Firma vorbereitete - eine gute Gelegenheit, meinem Vater zu gefallen, seine Anerkennung zu gewinnen. Jetzt würde er mich lieben. Also entschloss ich mich, Betriebswirtschaft zu studieren.

 

Doch ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Ich benötigte eine Gelegenheit, alles in Ruhe zu durchdenken. Diese bot sich mir, als meine Kirche mir vorschlug, den Sommer auf den Philippinen zu verbringen. Vom Chef meiner Firma wurde ich für diese Zeit freigestellt. Meine Aufgabe sollte sein, mit den Missionaren auf den Philippinen zu arbeiten und von der Arbeit der Kirche zu lernen. Ich war gespannt.

 

Als ich auf der Insel Mindanao ankam, merkte ich schnell: Ich befinde mich in einer Kriegsregion zwischen den Einheimischen und den Ansiedlern. Zwar lebten wir am Rand des Konfliktgebietes. Aber die Missionäre wollten überhaupt nicht in das Risiko eingehen, mich in Gefahr zu bringen. Darum erhielt ich für einige Wochen eine Art Hausarrest. Darüber war ich sehr enttäuscht. Die Abende aber waren interessant. Ich konnte mit einem der Missionare sprechen. Er war promovierter Theologe. Er nahm sich viel Zeit, um mit mir zu diskutieren. Wahrscheinlich hat er gespürt, dass ich innerlich damit kämpfte, welche Ausrichtung ich meinem Leben gebe sollte. Er hat mir verschiedene Bücher zur Lektüre empfohlen.

 

Eines hat er mir besonders ans Herz gelegt. Es war von einem lutherischen Pfarrer. Es trug den Titel: „Wie man Christ sein kann, ohne religiös zu sein“. Es war ein kurzer Kommentar zum Römerbrief des Apostel Paulus – höchst interessant. Der Autor, Fritz Ridenour, erklärt, wie seit den Tagen der frühen Kirche Christen darum gekämpft haben, einen Weg zu finden, "gut" zu sein - um Gott durch eigene Anstrengungen zu gefallen. Doch am Ende aller Bemühungen tragen sie eine Last, die Gott ihnen nie auferlegen wollte. Mehr noch, ihr Christentum sieht am Ende aus wie jede andere Weltreligion - gebunden an freudlose Regeln und Rituale. Ridenours Studie über den Römerbrief bot ein Gegenmittel gegen den herrschenden Geist. Es zeigt auf, dass das Christentum keine Religion, sondern eine Beziehung ist. Es ist nicht der Mensch, der sich nach oben streckt, sondern Gott, der sich nach unten beugt. Jeder Christ kann sein Geburtsrecht genießen, wenn er erkennt, wer er/sie in Christus ist. Das Ergebnis ist ein Leben voller Hoffnung, Freude, Kraft und Potenzial.

 

Die Lektüre dieses Buches hat mir die Augen geöffnet. Wenn ich mir Gottes Anerkennung und Liebe nicht „verdienen“ kann, dann gilt das auch im Blick auf meinen Vater: Auch seine Anerkennung und Liebe kann ich nicht erzwingen. Aber was soll ich tun, wenn ich nichts tun kann?

 

Antwort: Jeder Mensch kann die Freiheit nutzen, das zu werden, was er oder sie ist. Das bedeutet: Ich kann darauf vertrauen, dass Gott mich liebt. Diese Liebe ist ein Geschenk, eine Gnade. Ich habe viele Tage gebraucht, das wirklich zu begreifen. Ich habe nie daran gedacht, dass es eine Welt gibt, die sich nicht auf das Geben und Nehmen, auf den Handel stützt. Nun begann ich zu erkennen, dass es eine Welt gibt, die auf Gnade basiert.

 

Die neuen Gedanken verfolgten mich bis tief in die Nacht: Ich kann Nichts machen, ich kann weder Gott noch meinen Vater dazu verpflichten, mich anzuerkennen oder zu lieben. Ich habe geweint, als ich das Buch vom Pfarrer Ridenour gelesen habe. Gott liebt dich, ohne dass du dafür vorher eine Leistung erbringen musst. Mit dieser guten Nachricht wurde ich plötzlich aus der Sackgasse des menschlichen Tuns in die Welt der göttlichen Gnade geführt. Das Wort der Gnade wird uns jeden Tag neu zugesprochen. Wir müssen nur Hören. So klingt auch der Predigttext aus dem Römerbrief in Kapitel 8:

 

1So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.  2Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

10Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. 11Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

 

Ursprünglich bin ich in einem baptistischen Kontext aufgewachsen. Da habe ich gelernt: Jeder muss für sich eine bewusste Entscheidung treffen, dass Jesus Christus sein Herr und Retter ist. Ohne diese Entscheidung kann Gott nichts tun. Alles hängt von dieser Entscheidung ab. Zwar wird bei den Baptisten auch von der Gnade gesprochen. Aber diese Gnade steht unter der Bedingung, dass der Mensch sich ihrer als würdig erweisen muss. Er muss sie sich verdienen.

 

Als ich mich den lutherischen Kirchen zuwandte, begegnete ich den wunderbaren Gedanken Martin Luthers aus dem Kleinen Katechismus zum Heiligen Geist:

 

Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; (Der kleine Katechismus, das 2. Hauptstück, der dritte Artikel)

 

Mit diesen Worten fasst Luther die gleiche menschliche Erfahrung zusammen, die die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott erleben. Das gilt besonders in unserer modernen Zeit. „Ich glaube, dass ich nicht glauben kann.“ Heute erfahren Menschen die Präsenz Gottes mit den Worten, Gott liebt dich, auch wenn du nicht besonders lieb bist. Entscheidend ist, dass du dem Geist Gottes in dir Raum gibst.

 

Liebe Gemeinde, Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes – und gleichzeitig feiern wir den Geburtstag der Kirche. Das heißt, Gott vertraut einer Versammlung von Menschen das Evangelium an, also die gute Nachricht, dass Gott seine Schöpfung liebt. In Jesus Christus gibt sich Gott hin für seine Schöpfung, die wir Menschen durch unser Tun und Lassen jeden Tag neu gefährden. Gott gießt seinen Geist über der Welt aus, um sie zu retten und um uns zu ermöglichen, als erneuerte Geschöpfe zu leben. Die Kirche ist kein Selbstzweck. Sie existiert nicht, um ihre eigene Existenz zu sichern, die Institution vor dem Verfall zu retten. Die Kirche bleibt bestehen, wenn sie ihrem Auftrag treu bleibt: den Menschen glaubwürdig die Gnade Gottes zuzusprechen, ihnen in dieser Weise das Rückgrat zu stärken, sie aufzurichten und zu trösten. Kirche gedeiht dann, wenn wir Gottes Treue zu seiner Schöpfung verkünden, Auferstehung bezeugen da, wo der Tod herrscht, und neues Leben verheißen, wo Menschen verzweifeln.

 

In diesen Tagen denke ich daran, wie ich auf den Philippinen mitten im Krieg zur entscheidenden Erkenntnis gelangt bin. So hoffe und bete ich darum, dass auch wir mitten in dem schrecklichen Krieg nicht die wichtige Botschaft aus den Augen verlieren: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.