Predigt im Abendgottesdienst über 1. Mose 50,15-21

  • 09.07.2017 , 4. Sonntag nach Trinitatis
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen

Lasst uns Gott in der Stille bitten, dass sein Wort unser Herz erreiche.

Liebe Gemeinde, diese Predigt wird nicht vom G20 Gipfel handeln. Sie wird nicht reden von der Eskalation von Gewalt auf den Straßen in Hamburg, nicht reden von der Kluft zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft, in unserer Welt, nicht reden über schreiende Ungerechtigkeiten im globalen Maßstab.

Nein, diese Predigt wird handeln von Familie, von Spannungen zwischen Geschwistern, vom Fluch und Segen der Generation der Väter und Mütter, von Schuld und Verzeihen. Diese Predigt gründet sich auf eine Geschichte, die in eine undefinierbare Zeit vor vielleicht 3.000 Jahren weist, ... und landet so: bei uns selbst.

Ich lese den Predigttext für den 4. Sonntag nach Trinitatis. Er steht im letzten Kapitel des 1. Buch Mose:

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!
Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.
18 Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?
20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.
21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
Der Herr segne an uns sein Wort.


Joseph und seine elf Brüder. Uns begleitet vom Kleinkindalter bis zum hohen Erwachsensein eine ganze Bandbreite von Erzählungen und Bildern, die diese schillernde Erzvätergeschichte ausmacht. Wer könnte sich nicht erinnern, als Kind etwa im Kindergottesdienst mit in den Mundwinkel geklemmter Zungenspitze und einer Packung Buntstifte vor sich Joseph mit dem exotisch farbenfroh gewebten Mantel gezeichnet zu haben, auf den seine Brüder so neidisch waren, weil er ihm- und nur ihm allein - vom Vater geschenkt worden war?! Wer fühlt in der Erinnerung nicht den Schauder bei der Vorstellung, wie der junge Joseph von den eigenen Brüdern in ein feuchtes Brunnenloch herabgelassen worden und dann an durchziehende Handelsleute für ein paar Schekel verschachert worden war?! Und wem kommen nicht die Tränen, wenn Gerd Westphals Stimme aus Thomas Manns Roman die Szene vorliest, in der der hochbetagte Jakob seinen todgeglaubten Sohn in die Arme schließt?!

Neid und Missgunst; Schauder und Grusel; Rotz und Wasser. In der Josephsgeschichte wimmelt es nur so von Gefühlen. Die schwärzesten und die hellsten emotionalen Regungen, die unsere Seele auf Lager hat, kommen hier aus dem Verborgenen an die Oberfläche.
Einige dieser Emotionen mutet auch unser Predigttext uns zu. Er bleibt jedoch nicht bei der Explosion des Gefühls stehen. Sondern er geht weiter und legt diesen Seelensalat hin vor Gott. Der Predigttext öffnet der Psychologie die Tür zur Theologie. „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu Dir. (Ps. 42, 1)" Unsere Seele mit all ihrem inneren Wust - wonach sehnt sie sich, wenn sie nach Gott schreit? Unser Predigttext bietet eine Antwort, er hat eine Lösung. Diese Lösung heißt - Er-lösung.
Schauen wir, liebe Gemeinde, genauer hin, wie der Textfaden im letzten Kapitel des Buchs Genesis verläuft:

Die Wörter, die der Erzählung ihre Farbe verleihen, sind wie mit plus und minus aufgeladen, sie könnten gegensätzlicher nicht sein. Es wogt auf und ab, es schwellt an, und es schwellt ab in den ersten Sätzen unseres Textes: „sich fürchten ... gram sein ... Bosheit vergelten ... Missetat ... Sünde ... übel getan" lässt die Waagschale auf der Seite der negativen Erfahrungen, die negative Gefühle hervorgerufen haben und die Beziehung unter den Brüdern vergiftet hat, tief nach unten sinken. Mit dem gleich zweimal gesagten „Vergib doch" der Brüder in Richtung Joseph ist die andere Waagschale gefüllt. Ob dieses andere Gewicht schwer genug wiegt, all das Negative nach oben zu lupfen, ihm die Schwere, ihm seine Dominanz zu nehmen?
Und über allem schwebt, über allem dräut in dem Eingangsstück des Predigttextes der Tod des Vaters, der Tod von Jakob. Da scheint einiges ins Wanken geraten zu sein durch den Tod dieses Mannes. Er war es wohl, der die so verschiedenen Brüder lebenslang zusammengehalten hat. Seine Liebe und seine emotionale Kraft waren es gewesen, die es vermocht hatten, den verloren geglaubten und nach Jahrzenhten wieder erschienenen Sohn Joseph wieder mit seinen Brüdern in Kontakt zu bringen, sie miteinander zu versöhnen. Der Vater stirbt, diese verbindende Kraft fällt weg. Da bricht einiges weg, da gerät etwas ins Wanken unter den Geschwistern. Die Brüder scheinen daran zu zweifeln, dass Joseph ihnen ihr Narrenstück, sozusagen ihren Bubenstreich vergeben hat. War es doch viel mehr als ein Bubenstreich! Es war gerade so kein Mord. Den Bruder - aus Missgunst und aus Neid um der besonderen Vaterliebe willen - in ein Loch zu stecken und dann in die Sklaverei zu verkaufen - den Bruder!! -, das war schon perfide. Das war brüderliche Liebe in ihrer schlimmsten Verkehrung.
All das hatte Joseph den Brüdern vergeben. Hatte sie in der Hungersnot mit Getreide versorgt, ihnen Geld mit gegeben. Die Wiederbegegnung mit dem Vater hatte die Versöhnung gebracht.

Doch dem geschwisterlichen Frieden trauen die Brüder nach Jakobs Tod nicht. Sie erfinden ein Vermächtnis, das Jakob auf dem Totenbett an Joseph weitergegeben haben soll. Jakob habe gesagt: „So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben." Und die Brüder stimmen gleich noch einmal bekräftigend mit ein in diese Aufforderung: „Vergib uns doch diese Missetat."
Die Brüder, sie hatten offensichtlich gewaltiges Muffensausen. Das schlechte Gewissen, noch mehr: die Angst steht ihnen bis zum Halse. Taugt sie nicht, die alte Versöhnung? Und als sich die Brüder dann persönlich begegnen, werfen sie sich vor Joseph nieder und bieten ihre Knechtsdienste an, ein nicht gerade typisches Verhalten unter Menschen, die durch verwandtschaftliche Bande miteinander verbunden sind.
Noch ehe die Brüder bei Joseph anlangen; schon, als ihm reitende Boten die flehentliche Bitte der Brüder ausrichten, bleibt die Geschichte förmlich stehen. Sie zeigt mit einem kurzen Satz, wie Joseph reagierte:
„Aber Joseph weinte, als man ihm solches sagte."
Joseph weinte. Ihm rollen die Tränen über die Wangen. Sein Gesicht glüht. Der Blick verschleiert sich. Es schüttelt ihn. All das oder auch nur ein wenig davon. Joseph weinte.

Kann man Weinen analysieren? Lassen sich Tränen interpretieren?

Josephs Tränen zu erklären werde ich unterlassen. Ich möchte Ihnen, liebe Gemeinde, nur vermitteln, welch starken Eindruck sie auf mich im Verlauf der Erzählung machen. Ich sagte es schon, die Geschichte steht plötzlich still. Gleich darauf geht sie mit der alten Dynamik weiter: Den Brüdern sind vor Schuldbewusstsein die Knie weich, sie werfen sich zu Boden, in den Staub, wahrscheinlich mit dem Gefühl, es vor Joseph vergeigt zu haben.
Und doch sind es nach meinem Eindruck die Tränen, die dann die Wende bewirken. Joseph spricht zu den Brüdern. Er sagt nicht: „Elendes Gesindel, endlich kapiert ihr, was ihr mir angetan habt. Aber wartet nur, jetzt, da der Vater tot ist, könnt ihr euer blaues Wunder erleben. Ihr könnt euch frisch machen vor dem, was euch jetzt bevor steht." So redet Joseph nicht.

Er sagt: „Fürchtet euch nicht." Und er lenkt ab von seiner Person, er lenkt ab von dem Geschwisterkonflikt. Stattdessen bringt er Gott ins Spiel:
„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen."

Josephs Tränen scheinen etwas hinweggeschwemmt zu haben. Den alten Schmerz, den Zorn, den Gram, die Verletzung auch. Die Tränen haben Josephs Blick rein gewaschen. Ihm ist es jetzt möglich, das Wesentliche zu sehen. Und das Wesentliche ist: Gottes guter Plan mit uns.

Hört mal her, Brüder, guckt mal rüber, Schwestern! Die Zwiste, die Konflikte, auch die unausgesprochenen Vorwürfe, die es unter uns gegeben hat - die sollen nicht das letzte Wort behalten, die sollen unsere Beziehungen nicht dominieren und dadurch vergiften. Der größere Maßstab ist doch, dass Gott daran denkt, es gut mit uns zu machen. Gott hat Gutes mit uns vor. In all unsern geschwisterlichen Beziehungen.
Lasst uns doch daran denken! Lasst uns doch dafür danken! Vielleicht ist der Anfang einer solch veränderten Perspektive das, was Jospeh als erstes machte: zu weinen.
... Wir feiern hier Gottesdienst in der Thomaskirche, der Kirche, in der Bachs musikalisches Erbe in besonderem Maße gepflegt wird. Machen Sie sich, liebe Gemeinde, einmal in Zukunft die Freude, darauf zu achten, welche Rolle die Tränen in Bachs Werk spielen: die „Zähren meiner Tränen", die „Fluten von Tränen", „Seufzer und Tränen", „sich niedersetzen mit Tränen". Wie bewegt die Musik da ist und wie die Musik Sie da bewegt.

Joseph und seine Brüder. Wir in unsern geschwisterlichen Beziehungen. Die Perspektive weg davon, alte Vorkommnisse immer und immer wieder aufzuwärmen und nachzutragen. Hin zu einer Perspektive zu Gott, zu Barmherzigkeit und Vergebung. Zur Erinnerung daran, dass es Gott mit uns gut machen will. - Nun werden einige von Ihnen, liebe Gemeinde, sich längst zurück gelehnt haben in ihrer Kirchenbank und denken: 'Geschwister? Habe ich keine.', 'Eigene Kinder? Sind nie gekommen!' Auch wissen wir aus der Erfahrung unserer gegenwärtigen Gesellschaft, dass es das sogenannte klassische Familienmodell kaum noch gibt. Da gibt es nach Trennung und Scheidung neue Partnerschaften mit mitgebrachten und eigenen Kindern. Sind das 'echte' Geschwister? Da gibt es kinderlose Paare, die ihren heißen Kinderwunsch durch Adoption erfüllen. Sind das 'echte' Kinder? Vor einer Woche ist die Ehe für homosexuelle Paare rechtskräftig geworden. In Zukunft wird es in diesen Beziehungen Kinder auf der Grundlage von Samenspende und Leihmutterschaft geben. Was ist mit all der Vielfalt und Buntheit, die unsere Welt in den partnerschaftlichen und familiären Kontexten beginnt zu leben?
Sollen wir diese neuen Konstellationen abtun mit dem lapidaren Satz, das käme ja in der Bibel nicht vor? Oder sollen wir umgekehrt Geschichten, wie die Josephsgeschichte in die Schublade stecken mit dem Vermerk „veraltet"?
Nein, lasst uns die uralten Geschichten weiter lesen. Lasst sie uns weiter verstehen, in jeder Generation neu und anders. Lasst uns zu den Brüdern von Joseph weitere Geschwister hinzunehmen: die Schwestern, die Halbbrüder, die adoptierten Schwestern, die gar nicht Verwandten. Und lasst uns erkennen, worum es eigentlich geht: Um unsere Beziehung untereinander und unsere Ausrichtung hin auf Gott, der es gut mit uns macht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu. Amen.

Prädikantin Dr. Almuth Märker
almuth.maerker@web.de