Predigt im Abendgottesdienst über 1. Mose 50,15-21

  • 27.06.2021 , 4. Sonntag nach Trinitatis
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen

 

Der Predigttext für heute entspricht der Lesung aus dem Alten Testament. Er steht im Buch Genesis, also im 1. Buch Mose, und dort ganz am Ende (50, 15-21). Mit der Episode, die wir gleich hören werden, schließt sich der Kreis der Josefsgeschichte. Jakob und Rachel, Josef und seine Brüder – am Ende dieses Erzählgeschehens finden wir uns wieder.

„Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.

Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.

Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.“

Liebe Gemeinde, gibt es einen Menschen in Ihrem Leben, dem Sie das, was er Ihnen angetan hat, nicht verzeihen können? Gibt es jemanden, einen Mann oder eine Frau, der Sie trotz aller Versuche nicht vergeben können?

Der Atem der jungen Sopranistin fließt voll und stetig. Aus ihm, aus dem aus und ein fließenden Luftstrom schöpft sie ihre Kraft für das, was gleich kommen wird. Im Publikum baut sich schon eine gewisse Spannung auf. Die Beleuchtung auf der Bühne wechselt. Sie – die Sängerin – ist nun ganz Mittelpunkt, die silbernen Sterne auf ihrem Kostüm glitzern. Und dann wird ihre Kehle zu der „Hölle Rachen“, aus dem Ton um Ton, Koloratur um Koloratur perlt, schäumt, spritzt. Jeder ihrer einzelnen stechend hoch gesungenen Töne trifft scharf wie Messer und spitz wie Nadeln. Jeder Ton hat nur eins zum Ziel: Rache. Ihr Herz kocht vor Rache gegen den Vater ihrer Tochter.

Das Publikum hält den Atem an, manche ducken sich in ihren Sitz, Verwegenere recken den Kopf. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Die Musik vermag den Gedanken in seiner schlimmsten Konsequenz zum Ausdruck zu bringen. Rache ist grausam, Rache ist furchtbar. Wen sie trifft, dessen Leben ist verwirkt.

Ohne noch Mozarts Rachearie der Königin der Nacht aus der Zauberflöte gekannt zu haben, muss den Brüdern von Josef ähnliches klar gewesen sein. Sie hatten sich nach des Vaters, nach Jakobs Tod alle bei Josef eingefunden. Vor ihrem inneren Auge spielte sich wie in einem Film noch einmal das ab, was sie ihrem Bruder angetan hatten. Die bevorzugende Liebe ihres Vaters hatten sie mit Neid registriert. Josefs selbstbewusst keckes Auftreten vergrößerte den Graben zwischen ihm und den Brüdern. Sie hatten ihn in ein Zisternenloch gesteckt und zurückgelassen. Die Eltern hatten sie glauben machen, Josef sei tot. Diesen hatte eine vorüberziehende Karawane herausgeholt und gerettet. Eine Rettung, die den Tod seines bisherigen Lebens bedeutete. Er wurde als Sklave an den Hof des Pharao nach Ägypten verkauft.

Gott hatte es so gewollt, Gott hatte es so gefügt, dass Josef viele Jahre später in das Haus seines Vaters und seiner Mutter zurückkehren konnte. Reich, angesehen, geehrte. Seinen Brüdern war er längst entwachsen.

Jakobs Tod, der Tod des Familienvaters bringt das ganze Familiengefüge ins Wanken. Diese Erfahrung machen Familien bis heute. Sie zeigt, ein wie sensibles Gebilde, ein wie erschütterbares Gebäude eine weit verzweigte Familie immer ist. Jede Veränderung an der einen Seite – egal ob oben oder unten, ganz links unter den Geschwistern oder weiter drüben bei den Enkelinnen – jede Veränderung hier bringt Veränderung da, an der anderen Seite mit sich. In einer Familie sind Beben nie auf eine einzelne Person beschränkt. Vielmehr setzt sich ein solches Beben bei einem Familienmitglied als eine tiefe Erschütterung in seismografischen Kreisen überallhin fort.

So ergeht es auch Josefs Brüdern. Der Vater stirbt, und sie können ihr Leben nicht einfach wie gestern noch weiter leben. Alte Geschichten werden wach. Staub stiebt auf in der wüsten Landschaft ihres Lebens. Schlamm wird aufgewirbelt, wo sie glaubten, klares Wasser zum Fischen vorzufinden. Indem die alten Geschichten wach werden, indem sie sich daran erinnern, was sie ihrem Bruder angetan haben, regt sich ihr schlechtes Gewissen. Sie haben Angst. Angst vor den spitz treffenden, tödlichen Pfeilen der Rache ihres Bruders.

Zunächst schicken sie einen Boten vor. Sie hoffen, Josef durch ihn besänftigen zu können. Doch dann machen sie sich selbst auf den Weg. Sie erscheinen Mann für Mann vor Josef, ihrem Bruder. Sie ahnen wohl, dass sie eine so schwere Schuld nur im persönlichen Gegenüber bearbeiten können.

Liebe Gemeinde, gibt es einen Menschen in Ihrem Leben, dem Sie das, was er oder sie Ihnen angetan hat, nicht verzeihen können?

Und Josef in unserer Geschichte? Der Gedemütigte, der Misshandelte, der um sein altes Leben gebrachte? Was ist mit Josef? Was tut Josef? Josef weinte. Und er fragt: Stehe ich denn an Gottes Stelle?

Diese zwei Dinge tat Josef.

Vielleicht lieben Sie es ja wie ich, Aha-Momente im Text rot einzukringeln. Damit sie sichtbar bleiben. Damit sie wirken können. Damit wir nicht so schnell wieder von ihnen davon eilen. Dass Josef weinte, das ist ein solcher Moment mit einem roten Kreis drumrum.

Also erstens. Er weinte. Wie schnell liest man über dieses Wörtchen hinweg. Ist es überhaupt wichtig? Können wir es nicht vernachlässigen? Es trägt doch nichts zur Handlung bei.

Doch!! Tut es. „Josef weinte“, ist ein immens wichtiger Moment im Fortgang der Handlung.

Wo Tränen sind, da ist Innehalten.

Wo Tränen sind, da ist Rückblick. Und der ist oft nötig vor überstürztem „Los, nach vorne!“.

Wo Tränen sind, da gibt es das Eingeständnis von Schmerz: Ja, diese Verletzung tat weh. Und sie tut es immer noch.

Wo Tränen sind, da wird das Leben nicht auf die leichte Schulter, sondern Ernst genommen.

Und wo Tränen fließen, da passiert Reinwaschen, Fortspülen, Klarsicht.

Wo Tränen fließen, da beginnt Heilung.

Was tat Josef?

Zweitens. Er fragt: „Bin ich denn an Gottes Stelle?“

Die Brüder hoffen mit Bangen, Zagen und zitternder Furcht, dass Josef ihnen ihre Missetat vergebe; so schreibt es der Text.

Sie fallen vor ihm nieder.

Sie gehen vor ihm in die Knie.

Sie bieten ihm ihre Dienerschaft an, bieten an, seine Knechte zu werden.

Ganz tief gebeugt halten sie ihr Knie vor Josef. Sie die Täter. Er ihr Opfer.

Wovon träumen die Täter? Dass das Opfer sagt, ach nicht so schlimm, geht schon wieder, mach dir keine Gedanken. Dich trifft keine Schuld.

 

Täter, die ihr so hofft; Täter, die ihr so träumt: Träumt weiter! Weit gefehlt!

Die Schuld bleibt bei Euch. Die Schuld bleibt bei Euch lebenslang. Und die ganze Tragweite Eures Verhaltens. Alles, was ihr angerichtet habt an Leid und Not, an Schmerzen und Tod – das ist und bleibt eure Schuld. Ihr müsst sie schultern, ihr müsst sie tragen.

 

Die Brüder hoffen auf ein Wort Josefs: 'Ach, das ist längst vergessen. Vergeben und vergessen. Nicht der Rede wert.' Aber solch ein Wort steht nicht in der Bibel, und Josef hat es nie gesagt.

Stattdessen sagt er: „Bin ich denn an Gottes Stelle?“

Josef kann und er darf nicht Gott spielen. Weder kann er an Gottes Stelle urteilen noch an seiner statt die Schuld aufheben. Die Verantwortung für ihr Handeln belässt er bei den Tätern, bei seinen Brüdern.

Dabei mutet er ihnen zu, zu ihrer Schuld zu stehen (zu stehen!), aufrechten Ganges und nicht unterworfen als seine Knechte und Diener.

Nein, die Vergebung der Schuld kann Josef seinen Tätern gegenüber nicht gewähren. Darin bleibt er in der Würde des Opfers. Was er jedoch tun kann: freundlich mit seinen Brüdern reden und für deren Kinder versorgen. An Josefs Tränen haben wir schon erkennen können, dass seine Gefühle fließen. Den Tränen lässt er nun Taten folgen, die von Herzen kommen. Er sorgt für seine Nichten und Neffen. Den Brüdern nimmt er zwar nicht die Schuld an seinem Leid und an seinem Schmerz, die Schuld dafür bleibt ganz bei ihnen. Und befreien von Schuld kann nur Gott allein. Doch Josef schenkt seinen Brüdern ein Weiterleben nach und mit der Schuld. Er ermöglicht ihnen ein Weiterleben durch seine freundliche Ansprache und durch seine Fürsorge.

Liebe Gemeinde,

Gibt es einen Menschen in Ihrem Leben, dem Sie das, was er oder sie Ihnen angetan hat, nicht verzeihen können?

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu. Amen

 

Dr. Almuth Märker

Prädikantin an St. Thomas

almuth.maerker@web.de