Predigt im Abendgottesdienst über Jesaja

  • 25.03.2018 , 6. Sonntag der Passionszeit - Palmarum
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herren Jesus Christus. Amen

Gott der Herr unserer Mütter und unserer Väter wecke uns das Ohr, dass wir hören.

Zweige hauen sie von den Bäumen, frisches Grün. Das eben erst Gewachsene wird abgehauen, es ist gerade gut genug, um IHM den Weg zu bahnen. Begeisterung, Euphorie, Erlöserhoffnung, Erlösungsglaube. 'Hosianna' rufen die, die ihm diesen Weg, die ihm diesen Empfang bereiten.
Wissen sie, wer da kommt? 'im Namen des Herrn'? Was ist das für ein Herr, der seinen Gesandten auf einem Esel reiten lässt?! Auf einem Esel: Da hebt sich die Gestalt des Reiters kaum aus der Menge heraus, sein Kopf überragt die anderen, durch die ihn sein Weg führt, fast gar nicht. Was für ein Auftritt! Eine Groteske.
Wissen die, die am Weg stehen, wer da kommt? Wissen die, die 'Hosianna' rufen, dass dieser sich selbst Erniedrigende schon in ein paar Tagen der Erniedrigte sein wird, der Gedemütigte, der Geschlagene, der Verspottete und Angespiene? Erniedrigt durch die Hinrichtungsart der Kreuzigung und durch das Kreuz auf Golgatha gleichzeitig erhöht.
Wissen sie es? Dass es ein Knecht ist, ein Knecht Gottes.
Sie hätten es gern anders, und ihren Jubelrufen ist es anzumerken, dass sie es sich anders gewünscht haben. 'Hosianna' - Wir hätten gerne einen König, einen, der gerecht ist und durchgreift, einer, vor dessen strahlender Macht sich die Widersacher fürchten.
Aber es kommt: ein Knecht. (Hätten die Leute ihre Propheten richtig gelesen, hätten sie es wissen können. - Sie haben es sicher gewusst. Aber anders gehofft.)

Ich lese den Predigttext für den heutigen Palmsonntag, er steht bei Jesaja im 50. Kapitel (Vv. 4-9):
„Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen."

Jedes Jahr aufs Neue, jedes Jahr, liebe Gemeinde, ertappe ich mich zu Beginn der Karwoche bei dem Gedanken: 'Muss das jetzt sein? Muss das ganze Schwere, das in den nächsten Tagen bevor steht, wirklich sein? Braucht es unbedingt das alles - und da brauche ich nur Signalworte aus den Evangelienlesungen der Karwoche herauszunehmen - Verrat, Gefangennahme, Verleugnung (Gründonnerstag), Verhör, Verurteilung, Verspottung, Geißelung, Kreuztragung, Schädelstätte, Kreuzigung, Verlassensein-Aufschreien-Todeskampf, das AUS (Karfreitag) - ... Braucht es unbedingt das alles, was da an Furchtbarem an Jesus geschieht? Es ist so schwer zu begreifen, es ist so schwer zu erklären, es ist so schwer - seien wir ehrlich, liebe Gemeinde - zu glauben und zu bekennnen. Wie oft schon dachte ich, mich am Kreuz vorbei schleichen zu können: den Kopf in den Kragen geduckt, den Blick gesenkt, zuuuufällig etwas anderes beobachtend, nur nicht am Kreuz empor blicken. Stattdessen am liebsten schon mal ein Schokoladenei auspacken: Ostern kommt doch ohnehin. Warum sich's dann so schwer machen?
Wenn es denn so schwer fällt, dieses Schwere, dieses nach unten ziehende Gewicht zu glauben und zu bekennen, dann ist es vielleicht erleichternd, es zu befragen und zu bezweifeln.

Bei ungenauem Hinsehen, oberflächlich betrachtet scheint sich ja in den Ereignissen der kommenden Woche folgendes Prinzip abzuzeichnen: Erst Karfreitag, dann Ostern. Erst das Schwere, dann das große Aufatmen. Erst Gefangensein, dann die große Befreiung. „Durch Nacht zum Licht", wie es die Musik von Beethovens 9. Sinfonie beschreibt. „Per aspera ad astra" - „durch Mühen zu den Sternen", wie es ein lateinisches Sprichwort sagt. - Aber ist es wirklich so einfach? Sind die Linien, die Gott im Leiden und Sterben und dann in der Auferstehung seines Sohnes vollzieht, so einfach nachzuzeichnen? Hat es Gott, die schöpferische Kraft, die Jesus als Sohn auf die Erde kommen ließ, so simpel gemeint: Ihn quasi mit verbundenen Augen durch das Dunkel des Todes zu schicken, um ihn nach drei Tagen in umso strahlenderem Licht auferstehen zu lassen?
Ich glaube nicht. Ich glaube nicht, dass Jesu Sterben, sein Tod und seine Auferstehung so im einfachen Hell-Dunkel-Kontrast zu begreifen sind. Ich glaube nicht, dass es ein schwarz-weiß-Foto ist, das Gott uns für das zentrale Geschehen unseres christlichen Glaubens in die Hand gibt.
Was dann? Wenn es nicht ein schwarz-weißes Geschehen ist, das es zu befragen, das es zu begreifen gilt, was ist es dann?

Ich muss es jetzt schon, liebe Gemeinde, ich muss es vorweg nehmen und am Zenit dieser Predigt endlich sagen. Ich kann es nicht noch weitere zehn lange Minuten zurückhalten oder kompliziert entfalten und entwickeln. Ich muss es jetzt, jetzt sofort sagen, herausrufen, verkünden.
DAS EIGENTLICHE GESCHIEHT AM KREUZ. SCHON DAS KREUZ IST DER ZIELPUNKT. (und nicht erst Ostern) Jesus Christus ist durch das Kreuz erhöht, er ist emporgehoben aus der gesamten Menschheitsgeschichte. Ja, zugegeben, er ist aufs Niedrigste gedemütigt, und er ist gekreuzigt worden. Aber gleichzeitig ist er dadurch Sieger, Überlegener, Unangefochtener.

Das war sozusagen der schnelle Zoom in dieser Predigt. „Das Eigentliche geschieht schon am Kreuz." Ich zoome wieder heraus und lege uns den Predigttext bei Jesaja zum Begreifen ans Herz. Bei Jesaja - ganz klar - kann nicht die Rede sein und ist nicht die Rede von Jesus Christus. Die Verse, die ich als Predigttext verlesen habe, sind vielmehr die wörtliche Rede eines Beters viele Jahrhunderte vor Jesus. Er hat aber offensichtlich selbst alle Höhen und Tiefen möglicher Gottes- und Menschenerfahrung durchgemacht. Dieser Beter bei Jesaja fasst seine Erfahrung in Worte wie: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel." Geschlagen werden, geohrfeigt werden, verspottet werden, bespuckt werden. Wenn Sie an dieser Stelle hellhörig werden, liebe Gemeinde, dann verfolgen Sie Ihren Verdacht ruhig weiter: „Da spien sie ihm ins Angesicht und schlugen ihn mit Fäusten. Einige aber schlugen ihn ins Angesicht." So lesen, so hören wir es am Karfreitag bei Mt. (26, 67).
Jesaja scheint da etwas vorwegzunehmen. In seinen Versen gibt er einer Gestalt Stimme, die uns an Jesus Christus auf seinem Leidensweg erinnert: Er gibt einem Knecht Stimme und Gestalt, der nicht weiter benannt wird. Und noch dazu sind Jesajas Verse von einer solchen sprachlichen Form, dass sie wie ein Lied vorgetragen werden können:
„Gott der HERR
hat mir eine Zunge gegeben, dass ich wisse,
mit den Müden zu reden zu rechter Zeit.
Er weckt mich alle Morgen;
er weckt mir das Ohr, dass ich höre."

Der Befund unseres Predigttextes ist dieser: Ein Knecht Gottes. Ein Lied. - „Gottesknechtslied", so wird zusammen mit drei anderen diese Jesajastelle bezeichnet. Dem Gottesknecht scheint Schlimmes widerfahren zu sein. Die ihm übel wollten, schlugen ihn, zerrten ihn herum, verhöhnten ihn, spuckten ihn an. Trotz dieser Demütigungen ist das Gottesknechtslied nicht das eines Geknechteten. Der Gedemütigte liegt nicht am Boden. Vielmehr erhebt ihn sein Lied über die Widersacher. Woher nur, woher nimmt dieser Gedemütigte diese Kraft?
Die Antwort ist dreifach im Lied besungen. Und die Antwort beginnt mit einer Anrede Gottes, gefolgt von einem dreimal wiederholten Bekenntnis Gottes: „Gott der Herr". Den Namen des Unnennbaren - JHWH - spricht der Gedemütigte in seinem Lied immer wieder aus.
„Gott der Herr" - das ist wie ein Aufatmen.
„Gott der Herr" - das ist wie ein Durchhalten.
„Gott der Herr" - das ist wie ein Ankommen.
Und Strophe um Strophe singt der Gedemütigte von seiner Erfahrung mit Gott dem Herrn.
- Wie er Gottes Schüler hat sein dürfen. Ihm zuhören, sein Wort hören, dieses Wort selbst aussprechen und nach und nach verstehen und begreifen können. [„er weckt mir selbst das Ohr"]
- Der Gedemütigte singt außerdem davon, wie ihm Gott unmittelbar geholfen hat, als seine Gegner auf ihn eindrangen. Es sei ihm möglich gewesen, sein 'Gesicht hart wie einen Kieselstein' zu machen. Was beim ersten Lesen des Predigttextes wie unsensible Maskenhaftigkeit anmutet, stellt sich beim genaueren Hinsehen als wichtige Fähigkeit gegenüber Peinigern dar: das Gesicht hart wie einen Kieselstein machen, d.h. unrührbar sein für die Demütigungen, unanfechtbar im Vertrauen auf Gott, der mir hilft. Was für eine Befähigung zur Stärke in der Schwäche das ist!
- Und schließlich hat das Lied des Gedemütigten, unser Gottesknechtslied, eine regelrechte Siegesstrophe: „Wer will mein Recht anfechten?", fragt der Knecht. Er ist sich der Hilfe Gottes und der Überlegenheit durch ihn und mit ihm derart bewusst, dass er für die Gegner am Ende nur eine müde Handbewegung übrig hat: „ Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen."

Der Knecht - er ist der Überlegene. Der Knecht - er ist der Überwinder. Der Knecht - er ist der Unanfechtbare. Die Gestalt, die am tiefsten gedemütigt wurde, ist noch in der Demütigung in die Höhe gehoben. Sie ist heraus gehoben aus der Menge. Sie ist herausgenommen aus dem teuflischen Spiel von Gewalt und Verachtung.
(Tausendfach sehen wir dieses Teufelsspiel weltweit überall dort, wo Menschen erniedrigt werden: durch Gewalt in Kriegen, Gewalt gegen Kinder, Gewalt unter Eheleuten, Gewalt gegen Ausgebeutete. Und ich möchte fragen: Wer hat hier die Würde? Wem hat Gott seinen Beistand zugesagt? Dem Peiniger? ... oder der Gepeinigten? Dem Ausbeuter? ... oder dem Ausgebeuteten? Den Besatzern? ... oder den Besetzten?)

Der Gottesknecht bei Jesaja und Jesus Christus als Knecht.

Liebe Gemeinde, als ich in den letzten Tagen den Predigttext wieder und wieder durchkaute, ihn mir sozusagen auf der Zunge meines Herzens zergehen ließ, da klang es mir immer wieder in den Ohren. „Knecht" und Gottes Sohn als Knecht - das kommt in derart vielen Liedern vor, die wir - übrigens nicht nur in der Passionszeit, sondern das ganze Jahr über - singen:
- (Advent) Er äußert sich all seiner G'walt, wird niedrig und gering und nimmt an sich eins Knechts Gestalt ... (EG 27, 3)
- Die Epistel für den Palmsonntag: Er nahm Knechtsgestalt an und ward Mensch. (Philipper 2, 2)
- „... und gingst Du nicht die Knechtschaft ein, müsst unsre Knechtschaft ewig sein." (Johannespasssion „Durch dein Gefängnis")
- Eingangschor Johannespassion:
„... Zeig uns durch deine Passion, dass du, der wahre Gottessohn, zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit, verherrlicht worden bist." (Oboenton wie wenn sich Gott am Tiefpunkt der Niedrigkeit einmischt.)
- Und noch eine Art von Lied, von Gesang kam mir plötzlich in den Sinn, wurde mir neu bewusst: Die Gospels, die Lieder, die der Chor „open up wide" heute Abend singt: Sind das nicht auch Lieder von Geknechteten, Gedemütigten, Entrechteten? Die alten Gesänge der Sklavinnen und Sklaven. - Wer ist der Überlegene in diesen Gospels - Herr bzw. Herrin oder Sklave bzw. Sklavin?

Der Gottesknecht wird geschlagen und bespien. Und bleibt doch stark. - Jesus Christus wird bespien, gegeißelt und ans Kreuz geschlagen. Und ist dadurch erhöht, er bleibt der Sieger. Diese Art von König ist Jesus - reitend auf einem Esel und ans Kreuz geschlagen. Am Ende überlegen, so dass wir in demütiger Anbetung singen werden: „O großer König, groß zu allen Zeiten".

... mit dieser Musik im Herzen gehe ich unterm Kreuz vorbei. Ich schaue nicht mehr weg. Ich schaue hin. Dem Geschlagenen ins Gesicht. Und beginne zu begreifen. [PAUSE]

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, bewahre unsre Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu. Amen.


Prädikantin Dr. Almuth Märker