Predigt im Abendgottesdienst über Jesaja 62,6-12

  • 05.08.2018 , 10. Sonntag nach Trinitatis
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Es ist Urlaubszeit. Eine Familie fährt ans Meer. Es geht ans Wasser, Sandburgen werden gebaut, der Sonnenuntergang genossen. Manchmal werden Fahrräder ausgeliehen; hinter den Dünen geht es ein Stück über Land. Kommt eine Kirche in Sicht, heißt es absteigen, die Räder an die Feldsteinmauer lehnen und hineingehen. 'Kirchen werden besichtigt', so will es die Familiensitte.
Es ist eine Wohltat, die Stille und die Kühle, die besondere Atmosphäre der Kirchen weit weg von zu Hause zu genießen.
Diesmal bietet der Kirchenbau etwas ganz besonders Staunenswertes in seinem Innern: einen hoch aufragenden barocken Schnitzaltar - so überreich an Szenen, dass die Familie eine Weile braucht, sich darin zurecht zu finden. Es ist sozusagen alles vorhanden:

- Ganz oben schwebt die Taube über dem thronenden Gottvater, der seinerseits über Christus, dem Weltenrichter, steht: Taube - Vater - Sohn ... die Trinität.
- In einzelnen Schnitzansichten gibt es außerdem
Jesu Geburt (also Weihnachten),
Jesu Kreuzigung (Karfreitag),
seine Auferstehung (Ostern),
auch die Himmelfahrtsszene fehlt nicht.
- Ein dicker, schuppig glänzender Jona-Fisch erinnert daran, das Jona ebenso wie später Christus nach drei Tagen aus dem Todesrachen befreit wurde.
- Ganz unten, sozusagen auf Augenhöhe mit dem gläubigen Betrachter, zeigt sich in ganzer Breite des Altars eine Abendmahlsszene mit den dazugehörigen Bibelversen, den Einsetzungsworten.

Alles an dem in Weiß und Gold strahlenden Altar ist nicht nur wunderbar plastisch geschnitzt und erkennbar, sondern auch klar verständlich durch seine Bildkraft.

Die Familie ist inzwischen beim Betrachten des Altars und beim Erkennen der Bilder, beim Entziffern und Buchstabieren der ins Holz geschnitzten Geschichten im Mittelgang der Kirche weit nach hinten getreten ... „Seht!": Den größten Blickfang bildet zentral auf mittlerer Höhe ein blaues Feld mit 4 Buchstaben; riesigen, goldenen. Man kann sie nicht einmal lesen, man kann ihre Bedeutung nur wissen: Es sind die vier Buchstaben des alttestamentlichen Gottesnamens JHWH.
Die Mitglieder der Urlauberfamilie legen noch einmal den Kopf in den Nacken, staunend, aber auch leicht irritiert. Und der mittlere Sohn im Teenageralter spricht aus, was alle in diesem Moment denken:
„Warum steht dort mitten in der Mitte JHWH??!!"

- Warum steht in der Mitte eines Schnitzaltars, der alle Szenen der christlichen Religion enthält, der hebräische Gottesname?
- Warum ist offensichtlich die Mitte unseres christlichen Glaubens, warum ist sein Dreh- und Angelpunkt der alttestamentliche Name Gottes JHWH?

Heute ist mit dem 10. Sonntag nach Trinitatis der sog. Israelsonntag. Wir erinnern an den Bund Gottes mit dem Volk Israel. Wir rufen uns ins Gedächtnis, dass sein Sohn Jesus, den wir als Christus bekennen, aus diesem Volk Israel stammt. Und wir bringen im Gottesdienst heute und hier in Erinnerung, dass sich unser christlicher Glaube ebenso wie auf das Wort Gottes im Neuen (also im Zweiten) Testament auch auf die Verheißungen und Zusagen des jüdischen Gottes JHWH im Ersten (sog. Alten) Testament gründet.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Ersten Testament beim Propheten Jesaja im 62. Kapitel (Verse 6-12):
„O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,

7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!
8 Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen,

9 sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!

11 Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!

12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«."

Der Herr segne an uns sein Wort.

Das Hoffungsbuch, das Trostbuch des Propheten Jesaja ist über 400 Jahre Geschichte des Volkes Israel fort- und fortgeschrieben worden. Mit unserm Predigttext befinden wir uns schon im sog. 3. Jesaja-Buch. Jesaja schreibt über die Zeiten, er schreibt über die Zustände. Das Bild, das sich ihm und dem Volk Israel bot ..., über dieses Bild, angesichts dieser Realität kann man sich nur hinsetzen und bitterlich weinen:
Jerusalem, die hoch gebaute, die erhabene Stadt; Jerusalem, die Stadt Gottes, die Heimstatt des Tempels; ja, der Tempel als das Herzstück des Glaubens - sie liegen zerstört. „Wie liegt die Stadt so wüst?"

Jerusalem ist zerstört. Die Verzweiflung ist groß. Was jetzt tun?
Jesaja rät: Ihr sollt Gott keine Ruhe lassen! Liegt ihm in den Ohren! Erinnert sie ohn Unterlass' an ihr Erbarmen!
Ihr sollt Gott keine Ruhe lassen! Rüttelt vielmehr an seinem Arm und betet Tag und Nacht: 'Denke doch, Gott, daran ... Du hast doch versprochen, dass ...'

Jerusalem ist zerstört. Die Verzweiflung ist groß. Was jetzt tun?
Das Christentum ist am Verschwinden, nur noch 10 bis maximal 20 Prozent in unserm Land glauben an Gott. Was jetzt tun?
Lasst Gott keine Ruhe! Liegt ihm in den Ohren! Rüttelt an ihrem Arm und betet Tag und Nacht!

Jerusalem ist zerstört. Was jetzt tun?
Die vor Jahren mit soviel Liebe und fröhlicher Hoffnung begonnene Ehe ist zerbrochen, die Familie auseinander geschlagen.
Die Verzweiflung ist groß. Was jetzt tun?
Jesaja rät: Lasst Gott keine Ruhe! Liegt ihm in den Ohren! Erinnert sie an ihr Erbarmen!

Auf den ruinösen Mauern von Jerusalem, auf den ruinösen Resten unserer Kirche und den Trümmern unserer gescheiterten Beziehungen: Auf den Trümmern des Gestern - da herrschen nicht Larmoyanz und Resignation. Da ist vielmehr tierisch was los. Da wird gebetet, gerüttelt, erinnert und Gott angerufen - ohn' Unterlass. So will es, so rät es Jesaja.

Der Prophet Jesaja. Immer wieder setzt er sich ein für Recht und Gerechtigkeit. Das ist das vorherrschende Thema des 3. Jesaja-Buchs, und so redet auch unser Textausschnitt: Nicht der Feind soll dein Getreide essen, nicht der Eindringling soll deinen Wein trinken. Du hattest die Arbeit mit dem Acker, du hattest die Mühe mit dem Weinberg. Also sollst auch du den Nutzen und den Genuss daraus ziehen.
Vers 9: „... sondern die das Getreide einsammeln, sollens auch essen [...] und die den Wein einbringen, sollen ihn trinken."
Ich ziehe ein wenig den Kopf ein. Das sind radikale Sätze, eine Vision von Jesaja, die konsequent bis zum Schmerzpunkt ist. Ich habe mit Sicherheit keinen Finger gerührt für das Getreide, aus dem das Brot auf meinem Tisch gebacken ist. Und ich habe mit Sicherheit keine einzige Traube gelesen für den Traubensaft, den ich genieße. Nun sind wir in der Gesellschaft, in der wir leben, eingebunden in ein komplexes Geflecht von Geben und Nehmen der ganz verschiedenen Tätigkeiten und Berufe:
- Der eine pflügt den Acker. Die andere verkauft das Brot.
- Der eine unterrichtet die Kinder. Die andere behandelt die Lungenentzündung.
- Der eine karrt unsern Konsumberg über die Autobahnen. Die andere sitzt am Sterbebett von dessen Mutter. - Der eine malt ein Gemälde. Die andere spielt die Rolle der Iphigenie im Theater.
- Der eine leitet ein Arbeitsamt. Die andere singt die Liturgie im Gottesdienst. Usw. usf. Unsere Arbeitszusammenhänge sind so komplex. Und es wäre undenkbar, dass ich jeden Getreidehalm, jedes Stück Obst und jeden Tisch, den ich zum Leben brauche, selbst anbaue oder baue.
Und doch! Es geht um soziale Gerechtigkeit. Es geht um Gerechtigkeit vor Mensch und Gott:
- Es muss aufhören, dass der Lehrer, der Tag für Tag die Anstrengung leistet, vor vollen Klassen mit hohem Migrantenanteil zu unterrichten, von Burnout zu Burnout taumelt. Vielmehr muss Lehrerinnen und Lehrern auch die gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung zuteil werden, die diesen Beruf perspektivisch erst am Leben erhält: durch Sabatical-Lösungen, durch Supervision, vor allem aber durch Entlastung der Lehrpläne und Umbau unseres Bildungssystems.
Es geht um soziale Gerechtigkeit. Es geht um Gerechtigkeit vor Mensch und Gott. Es geht nicht an, dass z.B. Physio- und Ergotherapeuten, die neben Ärzten einen entscheidenden Anteil am Gesunden der Patienten haben, mit einem zum Erbarmen niedrigen Gehalt nach Hause gehen. Und es geht ebenso wenig an, dass Pflegerinnen und Pfleger, die gerade die Lebensphase von alten Menschen begleiten, vor der wir uns als Angehörige drücken oder die zu begleiten wir uns nicht zutrauen, vor der wir schlicht Angst haben, ... dass diese Pflegekräfte die niedrigsten Löhne bekommen, die es in unserer Gesellschaft überhaupt gibt. Es geht um soziale Gerechtigkeit. Es geht um Gerechtigkeit vor Mensch und Gott. Wie krank ist das denn, dass Bauern in unserm Land den Liter Milch für so wenig Cent verkaufen müssen, dass sie ihre Milchviehwirtschaft nicht weiter betreiben können?

Jesaja sieht voraus. Jesaja sagt: „... sondern die das Getreide einsammeln, sollens auch essen [...] und die den Wein einbringen, sollen ihn trinken."

Bin ich dabei, eine wohlfeile politische Rede zu halten? Ich denke: Nein. Von Jesaja kann ich es lernen:
 Die Dinge, die Missstände klar beim Namen nennen. Und Gott mit meinem Gebet in den Ohren liegen.
Und dann gibt er, Jesaja, konkrete Arbeitsanweisungen: Räumt die Steine weg! Macht Bahn! Bereitet den Weg!

Räumt die Steine Eurer Ausreden weg: Diese Welt lässt sich ändern.
- Fangt heute noch mit einer Urlaubsplanung für nächstes Jahr an, die anders ist. Ohne Flugreisen, ohne Kreuzfahrt, ohne Touristenmassen an einem Ort. Räumt die Steine Eurer Ausreden weg:
- Geht schon morgen zum kleinen regionalen Händler statt zum Billigdiscounter und kauft weniger, aber dafür bewusst. Räumt die Steine Eurer Ausreden weg:
- Ruf deinen Ex-Mann an und frage ihn, ob ihr den nächsten Kindergeburtstag gemeinsam gestalten wollt. Zum Wohl der Kinder.

Räumt die Steine weg.
Der Gott, an den zu wenden Jesaja mir rät, ist mir ein naher Gott geworden. Ich kann ihm in den Ohren liegen mit allem, was mich bedrückt. Ich kann an seinem Arm rütteln und sie an ihr Erbarmen erinnern.
Und ich will darauf vertrauen, dass er mich zu seinem Wekzeug macht, wenn er Recht und Gerechtigkeit aufrichten wird.

In seinem Bautrupp will ich gern Steine wegräumen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christus Jesus. Amen.

Dr. Almuth Märker, Prädikantin an St. Thomas, Leipzig

Fürbitten

Du treuer Gott von alters her,
o Gott unserer Väter und Mütter.
Die Natur, die ganze Kreatur ächzt unter der Hitze des langen regenlosen Sommers.
Wir ahnen es: Das hat etwas mit uns zu tun. Der Wandel des Klimas in die Extreme ist menschengemacht. Wir tragen die Verantwortung.
Berühre unser Herz, dass wir zu dieser Schuld stehen. Erschüttere unsere Gewohnheiten, dass wir uns abwenden von Verschwendung und fremd gesteuertem Hyperkonsum.
Mach unsern Willen stark und fest, dass wir beim nächsten Regen nicht schon wieder einknicken und denken: 'Alles nicht so schlimm.'
Gott, gib Regen.

Du treuer Gott von alters her,
o Gott unserer Väter und Mütter.
Krieg zerreißt Teile dieser Welt.
Familien werden auseinander gerissen.
Menschen müssen aufbrechen ins Ungewisse.
Wir bitten dich: Stärke die Kräfte, die Frieden schaffen!
Fall den Gewalttätigen in den Arm!
Hebele die Verhältnisse, die Krieg und Unrecht ermöglichen, aus! Beende Korruption und Ausbeutung!
„Ach, zerhaue doch der Gottlosen Stricke!" (Ps 129,4)
Mache uns bei all dem zu deinem Werkzeug.

Du treuer Gott von alters her,
o Gott unserer Väter und Mütter.
Du allein blickst in unser Herz, Du weißt, wo uns die Knie weich sind.
Sei uns nah, wo unsere Angst am größten ist:
- bei einer lebenswichtigen Entscheidung, wenn wir eine Ausbildung oder ein Studium beginnen, eine Bewerbung schreiben oder uns gegen einen medizinischen Eingriff oder für eine Therapie entscheiden.
Sei uns nah, wo unsere Angst am größten ist: - wenn wir in dieser komplexen Welt den Überblick verlieren und wir für die Zukunft der Menschheit schwarz sehen. Sei uns nah, wo unsere Angst am größten ist:
- wenn unser eigenes Leben oder das naher Angehöriger durch schwere Krankheit belastet ist, wenn wir dem Tod ins Auge sehen.
Sei uns nah.

Du treuer Gott von alters her,
o Gott unserer Väter und Mütter.
Heute brechen 30 Jugendliche aus unserer Gemeinde zusammen mit unserm Pfarrer und unserer FSJlerin nach Rom auf. Segne und behüte sie und alle Urlaubsreisenden auf der Fahrt und unterwegs. Schenke ihnen reiche Eindrücke, gute Gemeinschaft und eine gesunde Heimkehr.

Du treuer Gott von alters her,
o Gott unserer Väter und Mütter.
Du bist Deinem auserwählten Volk Israel treu. Heute, am Israelsonntag, erinnern wir an Deine Treue zu Israel. In Jesus Christus bist Du für uns Mensch geworden. Wir bekennen Dich als Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist.
Lass unsere Liebe und Treue im Glauben an Dich brennend sein.
Vereine uns Christen mit den Gläubigen anderer Religionen in der Sehnsucht nach Deinem Reich.
O Gott unserer Väter und Mütter, leg Deinen Segen auf uns, unsere Kinder und Kindeskinder.

Amen.