Predigt im Abendgottesdienst über Johannes 9,1-7

  • 02.08.2020 , 8. Sonntag nach Trinitatis
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext steht bei Joh. 9, 1-7 (Heilung eines blind Geborenen):

„Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“

Stille

Liebe Gemeinde hier in St. Thomas,
Anfang dieser Woche war ich bei der routinemäßigen Untersuchung meiner Augen im Zusammenhang mit einem Computerarbeitsplatz. Meine Sehstärke ist seit der letzten Untersuchung vor ein paar Jahren ein wenig schwächer geworden, und ich wollte mit der Augenärztin besprechen, ob man da etwas unternehmen könne.
Die Ärztin stand auf, ging zum Blumentopf am Fenster, nahm daraus ein wenig Erde, und mit etwas Spucke knetete sie eine Salbe und legte sie mir auf die Augen.
Liebe Gemeinde, diese Szene hat sich so natürlich nicht zugetragen – schon allein wegen Corona (Spucke auf die Augen legen) … Mit dieser imaginierten Szene greife ich aber ein Unbehagen auf, das vielleicht auch Sie beim Hören dieser Heilungsgeschichte beschleicht:
Derart schlichte Therapiemittel! Und noch dazu Körpersaft! Soviel Sinnlichkeit! Soviel echter, direkter Kontakt! Das ist schon ein wenig eklig!
Wir sind es gewöhnt, dass zwischen uns und dem Arzt aufwändige, kostspielige Apparaturen, mindestens aber ein Schreibtisch stehen. Selbst der direkte Blickkontakt reduziert sich durch den permanenten Blick auf den Bildschirm häufig auf ein Minimum.
Spucke als Bestandteil der Therapie – das stößt zunächst ab.
Doch Halt! Ich fragte mich, ob nicht in der Antike und im Alten Ägypten der Speichel ein ganz übliches Heilmittel gewesen ist. Und in der Tat! Schon in dem 3600 Jahre alten berühmten Papyrus Ebers, der in unserer Stadt in der Bibliotheca Albertina aufbewahrt wird, heißt es, man solle die schmerzende Stelle eines Mannes oder die schmerzende Stelle einer Frau bespucken. Andere ägyptische und zahlreiche antike Beispiele, darunter der römische Naturforscher Plinius wären anzuführen.
Und während mir durch diese Beispiele aus der Geschichte der Medizin immer mehr bewusst wird, dass Speichel und Spucke in früheren Zeiten eine ganz normale Zutat ist, fällt mir – ich muss bei diesem Gedanken schmunzeln – ein, dass diese Heilungsart auch heute noch eine Rolle spielt:
„Mach Spucke drauf!“ Wie oft habe ich das zu meinen Kindern gesagt, wenn ein Mückenstick juckte, wenn ein Grint aufgegangen war. Mach Spucke drauf. Also etwas ganz Normales, damals wie heute.
Dass Jesus mit Spucke heilt, muss uns nicht befremden, es muss uns nicht abstoßen.
Die Menschen in Jesu Umgebung stößt aber etwas ganz anderes ab:
Jesus heilt einen Menschen, der blind geboren war. Da war für die Zeitgenossen völlig klar, dass diese Blindheit eine Folge von Fehlverhalten war. („Tun-Ergehen-Zusam enhang“) Und da dieser Mensch schon blind bei seiner Geburt war, müssen es wohl seine Eltern gewesen sein, die in Sünde gelebt hatten. Genau das ist auch die Frage, die die Jünger Jesus stellen: „Wer hat gesündigt – er oder seine Eltern, wenn er schon blind geboren wurde?“
Es krampft sich in mir alles zusammen angesichts dieser harten, ja dummen Frage der Jünger. Etwas in mir will rebellieren gegen diese Deutung, etwas in mir will aber auch in eine andere Richtung. Es steckt so tief in uns drin, dieses Denken: Wenns dem schlecht geht, wenn der so krank ist - da muss irgendwas sein. Die Langzeitarbeitslosigkeit von dem da – sicher selbstverschuldet. Wenn der da der Partner weg läuft, wird sie wohl selbst Schuld sein.
Gruselig, dieses Denken. Aber tief in uns verwurzelt.
Jesus macht da radikal Kehraus. Er widerspricht den Jüngern. Er fährt ihnen regelrecht über den Mund. „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern!“
Basta. Merkts Euch.
„Sondern es sollen die Werke offenbar werden an ihm.“
Ein irgendwie pathetischer Ausdruck. Aber so ist es gemeint. Wo Krankheit ist, wo es Schmerzen gibt, wo Ausweglosigkeit, Leid, Verzweiflung, Trauer ins Unermessliche wachsen, da will Gott wirken. Da will Gott hin, an diesen wunden Punkt. Den Finger in diese Wunde, den Finger auf diesen blinden Fleck legen.
Das Gähnen der Ausweglosigkeit, dieses Vakuum will Gott füllen. Dort, wo sich Menschen von denen, die Schweres ertragen müssen, abwenden, da ist Gottes Stelle, da nimmt sie Platz. Direkt am Krankenbett, direkt  im Jammertal.
Und genau so ist es in unserer Heilungsgeschichte: Diesen blind geborenen Menschen – ihm wendet sich Gott zu. An ihm zeigt Jesus seine Herrlichkeit, indem er ihn heilt.
Exkurs: Es gibt einen rabbinischen Text, der dieses Thema wunderbar aufgreift und das scheinbare Problem löst: „Gesegnet der, welcher die Geschöpfe unterschiedlich macht.“
Behinderung, Blindheit, Anderssein = Teil der Schöpfung.

Zurück zum Predigttext.

Die konkrete Heilung, dass der Blinde wieder sehen kann, ist anrührend genug. Doch die Geschichte geht weit über die 7 Verse unseres Textes hinaus. Es sind ganze 40 Verse, in denen diese Geschichte ausführlich erzählt wird. Da kommt die Infragestellung der Heilung durch die Pharisäer, da werden sogar die Eltern des Geheilten verhört, da wird der ehemals Blinde selbst befragt. Am Ende begegnet er noch einmal Jesus und bekennt sich zu ihm als Menschensohn.
Nirgendwo im Johannesevangelium wird eine Geschichte so ausführlich erzählt, so von allen Seiten beleuchtet. Dass wir von Blindheit geheilt werden, dass wir sehen lernen …, um dann richtig handeln und unser Leben in Gottes Licht gestalten zu können, das scheint enorm wichtig zu sein.
Und noch eine größere Dimension der Geschichte von der Heilung eines Blinden benennt Johannes gleich in den ersten Versen: „Solange ich in der Welt bin – sagt Jesus -, bin ich das Licht der Welt.“
Das Vermögen von Jesus zu heilen zeigt den hellen Schein, den er in die Welt bringt. Doch er wird am Ende seiner Passion in den Tod gehen, wird sterben.
Uns, die wir an ihn glauben, hinterlässt er einen Auftrag und eine Zusage: Gehet hin in alle Welt und erzählt mein Evangelium (Mt, Mk).
Und: Ihr – ihr ihr ihr seid ... wir sind das Licht der Welt.
Mit diesem Auftrag zu leuchten und unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen und geheilt von unserer Blindheit und dem Riesigen, das uns beschwert, lasst uns gehen:
in den Tag, in die Woche, durch unser Leben!

 Und der Friede Gottes, der größer ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christo Jesu

Amen