Predigt im Abendgottesdienst über Markus 9,17-24

  • 08.10.2017 , 17. Sonntag nach Trinitatis
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herren Jesus Christus.

Liebe Gemeinde,

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Markus im 9. Kapitel (Vv. 17-27):
„Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist.
18 Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht.
19 Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!
20 Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund.
21 Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf.
22 Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!
23 Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst - alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
24 Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
25 Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!
26 Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, sodass die Menge sagte: Er ist tot.
27 Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf."
Der Herr segne an uns sein Wort.

Es ist ganz schön eng hier oben auf der Kanzel. Es herrscht ein irres Getümmel; ein Gerüttel und Geschüttel ist zu spüren. Es ist eng: Es drängen sich die Leute hier auf der Kanzel. Eine ganze Menschenmenge ist da, dazu die Jünger, Jesus. Das sind schon viele, das sind eigentlich schon genug. Und jetzt! - Aus der Menge heraus löst sich ein Mann, tritt auf Jesus zu, spricht ihn an. Das, wovon der Mann Jesus berichtet, ist erschreckend, befremdlich, ja abstoßend. Er beschreibt Jesus, wie es seinem Sohn ergeht. Der ist gebeutelt, geschlagen, geplagt von einer schweren Krankheit, besessen von einem bösen Geist. Sein Leben ist der WAHNSINN, und die Krankheit hat ihn voll im Griff. Was der Mann Jesus da beschreibt, bleibt nicht fern von ihm selbst, er ist nicht distanziert von dieser Beschreibung. Es geht ihn vielmehr unmittelbar an, denn es ist sein Sohn, von dem er da spricht und dem es so erbärmlich geht. Der Mann spricht als Vater. Und er ist enttäuscht, resigniert und erschöpft: Gerade hatte er die Jünger Jesu gebeten, seinen Sohn aus der Umklammerung eines bösen Dämon zu befreien. Aber die Jünger - sie hatten's nicht vermocht. Wenig Hoffnung ist in seinen Augen, als er sich an Jesus wendet. Der lässt den Sohn herholen. Und wenn es bis jetzt schon eng war hier oben auf der Kanzel: die Volksmenge, die Jüngerinnen und Jünger (die wegen ihres Misserfolgs betreten dreinschauen), Jesus selbst, der Vater des Jungen - ... wenn schon viel los war hier oben: Nun, da der Sohn des Mannes selbst her gebracht wird, wird mir doch etwas Angst und Bange. Ich trete einen Schritt zurück - sehe, wie der Junge auf den blanken Boden fällt, wie er sich wälzt. Er knirscht mit den Zähnen, sein Körper wird steif wie ein Brett, Schaum sprudelt zwischen seinen im Krampf zusammen gepressten Zähnen hervor.
[zurücktreten, entsetzt schauen]
Ich brauche einen Moment, um mich wieder zu fassen. So erschüttert bin ich von dem Geschehen, so mitgenommen vom Leiden des Jungens, vom Leid des Vaters. Ich fasse mich, schöpfe Atem und gehe los, bahne mir einen Weg durch die Menschenmenge nach vorn. Ich tippe dem Jünger Jakobus auf die Schulter, berühre die Jüngerin Sara leicht am Arm: „Verzeihung, darf ich mal durch?" Ich schiebe die gaffende Menge auseinander: „Sie gestatten? Ich muss hier mal durch. Ich soll hier eine Predigt halten. Danke, ja." Gleich geschafft. Mit einem um Nachsicht bittenden Blick gehe ich am Vater vorbei, ich hefte meine Augen an Jesus, der kopfschüttelnd vor der Szene verharrt. Und trete nach vorn an die Kanzel: Ich soll hier predigen. Was soll ich, wovon soll ich hier predigen?
Liebe Gemeinde, diese Predigt handelt nicht von Epilepsie. Das ist die Krankheit, die bei Markus beschrieben wird. Die Bewertung der Epilepsie reichte im Altertum von „ganz besonders" im Sinne von „erwählt" bis hin zu „ganz schlimm" im Sinne von „furchtbar". In der Bezeichnung „heilige Krankheit" schwingt mit, dass die an Epilepsie Erkrankten für besonders von Gott auserwählte Menschen gehalten wurden. Zu anderen Zeiten - und das ist die Bewertung, die Epilepsie zu Jesu Lebzeit hatte - glaubte man, dass solche kranke Menschen vom bösen Geist, vom Dämon besessen waren, den es galt auszutreiben. Epilepsie zu haben, hatte jahrhundertelang den Ruch, eine Strafe für Sünden, die früher in dieser Familie begangen worden waren, zu sein. - So ein Quatsch! In meiner eigenen Familie gibt es Epilepsie. Was hier hilft, sind eine gute medikamentöse Einstellung und die Stärkung und Unterstützung des kranken Familienmitglieds da, wo Epilepsie soziale Einschränkung bedeutet.
Also: nicht die schreckliche Krankheit ist der Mittelpunkt unseres Predigttextes. Es muss etwas anderes sein. Um das herauszubekommen, schaue ich allen Beteiligten noch einmal ins Gesicht:
- Das voyeristische Gaffen der Menge, die fasziniert und abgestoßen zugleich auf den sich am Boden wälzenden Jungen blickt: Schon jetzt sehe ich das Flackern in den Augen, wie geil es sein wird, dieses Entsetzliche am Abend beim Bier oder bei einem Glas Rotwein auszuwerten ...!?? - Geschenkt! Halten wir uns nicht auf am Voyertum der damaligen und der heutigen Zeit. Schalten wir den Fernseher lieber im richtigen Augenblick aus.
- Oder sind es die Jüngerinnen und Jünger, über die es zu predigen gilt? Ihr Selbstbewusstsein ist gerade etwas angekratzt, Versagenserschrecken zeichnet ihre Haltung. Da hatten sie nun einmal die Chance, als Jünger Jesu einen bösen Geist auszutreiben - und dann klappt es nicht. So ein Mist! „Wir dachten, wir hätten den richtigen Weg eingeschlagen, mit Jesus die richtige Seite gewählt. Und nun so ein Misserfolg. Den bösen Geist beim Jungen auszutreiben - das ist auf der ganzen Linie schief gegangen, wir haben es nicht geschafft ..." Am liebsten würde ich sie schütteln, die Jünger Jesu. Glaubt doch nicht, Ihr wärt wie Gott! Maßt Euch doch nicht an, etwas Besseres zu sein, bloß weil Ihr euch Christinnen und Christen nennt! Denkt doch nicht, dass Euer Christenleben Euch vor Misserfolgen bewahrt oder dass Ihr ohne Umwege und Scheitern leben werdet. Ein unfallfreies Leben - das ist es doch nicht, was Euch in der Taufe versprochen wurde. - Geschenkt auch diese Szene ...
- Nein, dieser Predigttext drängt mich dazu, mich ganz und gar auf den Vater zu konzentrieren und daruf, wie Jesus sich auf ihn einlässt. Der Vater - er wechselt so ganz und gar zwischen Hoffnung und Resignation: (1) Er vereint beides in sich: eine unheimlich Kraft aufzubrechen, ein Wagnis einzugehen. Er war es ja, der seinen Sohn zu Jesus und seinen Jüngern brachte. Er war es ja, der den Mut hatte zu fragen: „Könnt Ihr ihn heilen?" (2) Und er ist gleichzeitig total am Ende: seine letzte Hoffnung - umsonst. Die Jünger hatten seinem Sohn nicht helfen können. 'Dann darf ich wohl Jesus selbst auch nicht zuviel zutrauen', dachte nun der Vater. Hoffen und Verzagen - beides ist in ihm zugleich. Hinzu kommt: diese unglaubliche Geduld, diese Kraft des Vaters all die Jahre das Leiden des Sohnes getragen zu haben. Wir erfahren ja nicht, ob der Junge 6 oder 12 oder 32 Jahre alt ist. Von Kindheit an leidet er daran: auf den Boden stürzen, erstarren, mit den Zähnen knirschen, Schaum vor dem Mund. Immer wieder. Immer dann, wenn es der Krankheit gefiel. Immer unberechenbar, immer wie ein Überfall. Und dazu noch das Gerede und das Vorurteil der Leute. Welche Geduld, welche Kraft des Vaters all die Jahre! - Aber auch nur bis an diesen Punkt, bis zu diesem Tag: ‚Bis hierhin und nicht weiter. Ich kann nicht mehr. Es wird Zeit, dass sich etwas ändert.' Aber wie? Der Vater kann nicht mehr. Und dann - sein Schrei.
„ERBARME DICH UNSER. HILF UNS."
Ein gellender Hilferuf. Es hallt mir so in den Ohren, wie wenn der Vater schon in den schwarzen Abgrund hinabstürzt und noch im Fallen um Hilfe schreit. HIIIIILFE.
Ist es zu spät? - Jesus gibt dem Vater die Antwort selbst in die Hand. Kein Ja, kein Nein, sondern: „Alle Dinge sind dem Menschen möglich, der glaubt." Und der Vater ergreift diese Gelegenheit. Noch im Absturz des Nicht-weiter-Wissens, schon im freien Fall der Ausweglosigkeit ergreift er die von Jesus gebotene Hand ... und mit einem Ruck bleibt alles stehen, bleibt der Vater in der Schwebe, fällt nicht weiter. Es macht Halt, die Szene kehrt um. Der Vater sagt: „ICH GLAUBE, HILF MEINEM UNGLAUBEN." Das sagt er, das schreit er heraus. Dieser Schrei veranlasst Jesus, zu dem Jungen das befreiende, das den bösen Geist bannende Wort sprechen: „Ich gebiete dir: Fahr aus aus dem Jungen!" Und der böse Geist fährt aus. Nachdem er sich entsetzlich aufgebäumt hat. Da liegt er da, der Junge. Die Umstehenden meinen schon, der Kampf habe ihm das Leben gekostet: Er liegt da wie tot. Jesus aber weiß, dass er nicht tot ist. Er richtet ihn auf, er hilft ihm aufstehen, so dass der Junge tatsächlich aufsteht. - Jesus greift damit dem Geschehen vor, das ihm selbst kurze Zeit später von Gott widerfahren wird. Der wird ihn nach drei Tagen im Grab auferwecken, so dass er auferstehen wird.
Gott wie sein Sohn Jesus ist der Herr über Leben und Tod. Auch das zeigt unser Predigttext. Auch daran will diese Predigt erinnern. Das ist auch der Grund dafür, dass wir im Anschluss an die Predigt ein Osterlied singen werden (EG 113, 1,2,5,8 - O Tod, wo ist dein Stachel nun). Für uns Christinnen und Christen hat nicht der Tod das letzte Wort.
Liebe Gemeinde, mit dem Anklang an etwas Altvertrautes, das Sie alle sehr gut kennen und das die Predigt mit anderen Worten aufnimmt, möchte ich die Geschichte bei Markus zusammen fassen:
- Ein Junge ist von einem bösen Geist besessen. Seine Geschichte scheint ausweglos. - Etwas Ähnliches erkennen wir manchmal in der Welt, in der wir leben: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen."
- Der Vater des kranken Jungen bittet Jesus in aller Verzagtheit und gleichzeitig voller Hoffnung um Hilfe: „So fürchten wir uns nicht so sehr, es sollt uns doch gelingen."
- Jesus gebietet dem bösen Geist, von dem Jungen abzulassen. Jesus gebietet dem bösen Geist, von dieser Welt abzulassen. Ein einziges Wort zwingt ihn in die Knie: „... ein Wörtlein kann ihn fällen."

Liebe Gemeinde, mit diesem gesungenen Predigtschluss grüße ich Sie im Monat des 500. Reformationsjubiläums. Halten Sie Ihren Glauben an den dreieinigen Gott lebendig. Und vertrauen Sie Ihrem Unglauben.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und unser Beginnen in Christus Jesus. Amen

Dr. Almuth Märker, Prädikantin an St. Thomas, Leipzig almuth.maerker@web.de