Predigt im Abendgottesdienst über Römer 5,1-5

  • 08.03.2020 , 2. Sonntag der Passionszeit - Reminiszere
  • Prädikantin Dr. Almuth Märker

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen

Liebe Gemeinde,

erinnern Sie sich an das verzweifelte Gefühl, das Sie manches Mal im Reformationsgottesdienst beschleicht? Ich denke da an einen Gottesdienstbesuch am 31. Oktober. Da wird die für unsern Glauben, für unser evangelisch-lutherisches Bekenntnis so entscheidende Stelle aus dem Römerbrief (3, 21-28) gelesen; es wird über sie gepredigt: „Nun ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbar. ...“ - eine wirklich grundstürzende, wichtige Stelle!

- und ich  verstehe sie einfach nicht. Nun, „gar nicht“ wäre übertrieben. Ich habe, Sie haben während Ihrer Laufbahn als Christin und Christ schon viel darüber nachgedacht, dass und wie wir vor Gott gerecht sind, wie ihre Barmherzigkeit zu verstehen ist.

Und doch! Oftmals bleibt es ein akademisches Nachdenken, ein Überlegen im Kopf, ein Gedankengerippe ohne Fleisch und Blut.

Und dann folgt: die Enttäuschung, ja die Verzweiflung darüber, es nicht fassen zu können, es nicht zu begreifen:

Gottes Gerechtigkeit – was ist das?

Wir sind gerecht – aber wieso?

Frieden mit Gott – wie fühlt sich das an?

Ich bin froh, dass der Apostel Paulus ein wenig später in seinem Brief an die Römer noch einmal auf diese Themen zu sprechen kommt. Und plötzlich – mein Gesicht hellte sich auf, als ich den Text las, um für heute die Predigt vorzubereiten - … und plötzlich bleibt Paulus nicht akademisch abgehoben, sondern er sagt „Wir“.

Ich lese den Predigttext für den Sonntag Reminiszere. Er steht im Brief des Paulus an die Römer im 5. Kaiptel (Vv. 1-5). Im Übrigen wurde die Stelle von den Herausgeberinnen und Herausgebern der Lutherbibel von 2017 überschrieben mit „Friede mit Gott“:

„Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“

Da steht es, Paulus spricht es aus: WIR SIND GERECHT durch den Glauben.

Wie das geht?

[1.]

Alles, was für uns wichtig ist und was uns durch den Glauben am Leben erhält, findet sich hier wie in einem großen Raum. Es ist sozusagen ein Glaubensraum, in den Paulus uns stellt. Er entwirft ein Gebäude, ein mit Fundament, mit begrenzenden Mauern und mit lichten Höhen ausgestattetes Gebäude, in dem Raum für uns ist. In diesem Glaubensraum dürfen wir leben.

Die Grundfesten, ohne die dieser Glaubensraum in sich zusammenfallen würde wie ein Kartenhaus, sind die folgenden drei:

Jesus Christus. Da steht es, das Kreuz – das wichtigste Architekturelement in diesem Raum. Mit seinem senkrecht stehenden Kreuzesstamm verbindet er Erde und Himmel, verbindet er unten und oben, verbindet er Mensch und Gott. Und mit dem waagerecht liegenden Kreuzesstamm breitet Jesus die Arme aus. Er schließt mich hinein, er lädt mich ein, er segnet mich. Ja mehr noch! Die Waagerechte - Einladung, Begleitung und Segen - gilt nicht nur mir, sie gilt allen andern im Raum ebenso. Dir, dir und Ihnen. Und denken Sie ja nicht, die ausgebreiteten Arme Jesu ließen sich durch die Mauern eines Gebäudes begrenzen. Jesu ausgestreckte Arme erreichen auch die, die draußen  sind, ja sie sind in der Lage, die ganze Welt zu umspannen.

Und weiter. Den Glaubensraum, der beim Lesen der Paulusstelle vor meinem inneren Auge entsteht, zeichnet noch etwas anderes aus, ohne das er gar nicht existieren könnte. Es ist sozusagen die Atmosphäre in diesem Gebäude, etwas, das es uns überhaupt möglich macht, Atem zu schöpfen und darin zu leben. Der Heilige Geist. Die Kraft des Heiligen Geistes – sie ist uns gegeben. Einfach so. Sie erfüllt den ganzen Glaubensraum. Sie stubst uns an, sie berührt uns, sie gebietet uns Einhalt. Sie lässt uns beginnen, sie lässt uns weitermachen, sie hilft uns wieder aufzustehen.

Und schließlich. In diesem Glaubensraum fehlt noch: Gott.
Wie schön, wie liebevoll Paulus an seine Gemeinde in Rom hier von Gott spricht! Gottes Liebe, sie sei in unsere Herzen ausgegossen. Gottes Liebe – schön! ausgegossen – schön!! in unsere Herzen – herrlich!!! Ich muss einen Moment innehalten, um das zu genießen.
Und wo genau hat der Glaube sein Zuhause? In unseren Herzen. So intim ist der Glaube, so innig die Liebe, die von Gott kommt, so verbunden mit uns selbst sind wir durch den Glauben.

Ein wunderbares Glaubensgebäude also: das Grundgerüst von Jesu Kreuz mit Senkrechter und Waagerechter, die lebenspendende Atmosphäre des Heiligen Geistes und für jeden und jede spürbar die Liebe Gottes im Herzen.

[2.]

Was passiert in diesem Glaubensraum?
Paulus schreibt es. Wir haben Frieden mit Gott. Wir sind versöhnt mit Gott.
Frieden und Versöhnung – ach!, liebe Gemeinde, diese beiden sind so große Sehnsuchtsworte der Menschheit. Frieden in der Welt, Versöhnung unter den Völkern, Frieden in den Familien, Versöhnung zwischen denen, die sich trennten. Aber wo fängt Versöhnung an? Die Antwort lautet: bei uns. Wir haben Frieden, wir sind versöhnt mit Gott. Eine große innere Ruhe kehrt dann in uns ein.

(Liebe Gemeinde, ich entdeckte an dieser Stelle der Predigtvorbereitung ein wunderbares Paul-Gerhardt-Lied, das nur selten gesungen wird, aber dermaßen gut passt: „Gib dich zufrieden und sei stille.“ EG 371, 15 Strophen - „Begib dich zum Frieden“ und: „sei dann in deinem Innern ganz getrost und ruhig und still“.)

Also: Wenn wir den Glaubensraum betreten, haben wir mit Gott Frieden. An seiner Tür steht „Eintritt frei“. Kommen Sie herein.

[3.]

Liebe Gemeinde, Paulus zu lesen ist oft nicht leicht. Paulus zu lesen ist aber manchmal auch ein rhetorisches Lehrstück. Paulus baut in unsern Text eine rhetorische Klimax ein: (V. 3b-4) „Wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung.“ Hören Sie das? Das ist ein Emporsteigen, eine gradatio; Stufe um Stufe geht Paulus mit uns von unten nach oben. Er fängt bei der Bedrängnis an und endet bei der Hoffnung.

Doch Paulus scheint mir allzu leichtfüßig von Stufe zu Stufe zu hüpfen. Als ob das so leicht wäre! Von der Bedrängnis zur Geduld, von dort zur Bewährung und von dort aus zur Hoffnung. Ich sehe nicht, dass Paulus, wenn er Schritt für Schritt nach oben geht, wirklich in der Tiefe anfängt. „Bedrängnis“, (in anderen Übersetzungen) „Trübsal“ - das ist doch ganz unten. Das muss ich doch erst einmal aushalten. Da kann ich doch nicht gleich, sofort und leicht übergehen zu Geduld – Bewährung – Hoffnung!

Ich stelle mir ein Streitgespräch vor zwischen sagen wir Prisca, einer Christin in Rom, und Paulus, als er dem Brief an die Römer den letzten Schliff gab. Dieser fiktive Dialog geht so:
Prisca: Wieso, Paulus, läufst du fort? Wieso mutest du dir das nicht zu: das Schwere, das ganz unten sein, das, was unendlich weh tut, den Schmerz?!
Paulus: Davon wollen die Menschen in Rom nichts hören. Das verdirbt ihnen die Stimmung. Auf das Positive kommt es an: Hoffnung!
Prisca: Ja, das stimmt. Hoffnung braucht jeder Mensch. Aber du musst die Römerinnen und Römer, wenn du ihnen schreibst, doch erst einmal ernst nehmen in ihrem Leid! Du schreibst „Bedrängnis, Trübsal, auf Griechisch 'thlipsis'“ Weißt du eigentlich, was das heißt? Es ist ein richtiger „Schuss vor den Bug“, es ist ein  Schlag ins Gesicht, es ist Unterdrückung, es ist widerfahrene Gewalt. Und wem das geschehen ist, der soll gleich aufstehen und Deine Stufen hoch gehen?!! Nein. Unten geblieben! Aushalten! Gott anflehen! Spüren, was kommt!
Paulus (guckt verständnislos): Wieso? Das versteht doch kein Mensch.
Prisca: Eben! Weil es nicht ums Verstehen geht, sondern darum, wie es sich anfühlt. - Hast Du die alten Lieder nicht im Kopf? „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.“ (Ps. 130, 1) - „Ich wanderte im finstern Tal“ (Ps. 23) - „Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe und Todesfurcht ist auf mich gefallen.“ (Ps. 55, 5) Das ist Verzweiflung pur. So fühlt es sich an, ganz unten, so schmeckt Bedrängnis, da kannst du sie riechen die Trübsal. Lass doch Deine rhetorischen Kniffe, streich die Klimax oder bring sie später in deinem Brief. Und nimm die Menschen stattdessen ernst in ihrem Leid. Scheu nicht die Tiefe und schreib ihnen anders.

Wir wissen, liebe Gemeinde, wie das Streitgespräch zwischen Paulus und Prisca ausgegangen ist. Die Klimax des Paulus blieb im Römerbrief stehen und fand als Kettenschluss Eingang in die Rhetoriklehrbücher. Priscas Bitte blieb ungehört. Doch mich hat sie berührt. Die Psalmworte, die sie zitierte, bringen in mir eine Saite zum Klingen. Und so steige ich hinab; dorthin, wo Prisca wollte, dass Paulus verweilt: nach ganz unten.

Ich steige hinab. Und bin erstaunt, dass mein Glaubensgebäude, der große weite Glaubensraum diese Tiefe hat. Ich finde mich wieder im Verborgenen, sozusagen in der Krypta des Gebäudes. Es ist dort fast dunkel, die Augen müssen sich erst gewöhnen. Säulen tragen das Gewölbe der Krypta. Auf deren Basis kriechen in Stein gehauene Schlangen und Mäuse. Ich erschrecke: kein gemütlicher Ort. Mein Blick wandert nach oben zu den Kapitellen.
- Dort sehe ich im Stein ein wutverzerrtes Gesicht. Ja, so fühlt es sich an, wenn ich Gewalt erfahren habe.
- Ein Kapitell weiter hockt eine Gestalt und hat die Hände vor's Gesicht geschlagen; zwischen ihren Fingern quellen dicke Tränen hervor. Obwohl es nur eine Geste in Stein ist, trifft mich die Wucht der Trauer ungebremst.
- Und als durch einen Luftzug die einzige Kerze in der Krypta erlischt, werden mir die Knie weich. Ich habe Angst.

Erschöpft finde ich zum Ausgang. Hier – ich taste mich vorwärts – eine Stufe; es ist die Bedrängnis. Es klingt noch nach, wie es sich anfühlte, so voller Wut, so angsterfüllt, so ganz in Trauer. Und jetzt! jetzt habe ich Kraft, die nächste Stufe zu erklimmen; Geduld. Und noch eine; Bewährung. Und die letzte Stufe; Hoffnung. Ich trete ans Licht. Der Glaubensraum empfängt mich. Ich spüre es. Hier ist Frieden. Hier bin ich versöhnt. Mit mir. Mit Gott.

Und dieser Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Prädikantin Dr. Almuth Märker
almuth.maerker@web.de